Nach eindringlichen Charakterstudien («Louder Than Bombs», «Oslo, 31. August») wagt sich der renommierte norwegische Regisseur Joachim Trier in die Welt des unterbewussten Surrealismus und bringt mit «Thelma» ein visuell aufregendes und konfuses Werk über das Erwachsenwerden und die Unterdrückung von Sehnsüchten auf den Big Screen – mit Exkursionen in die Welt der paranormalen Ereignisse.
Die Story
Vor Thelma (Eili Harboe) steht eine aufregende Zeit: Sie zieht von ihrem sicheren Zuhause in die Grossstadt Oslo, wo sie Biologie studiert. Täglich rufen ihre streng religiösen Eltern (Ellen Dorrit Petersen und Henrik Rafaelsen) an, die ihren Stundenplan auswendig kennen und sie nach jedem Detail ihres neuen Studentenleben fragen. Die schüchterne Thelma findet in der beliebten Anja (Kaya Wilkins) schnell eine neue Freundin und verliebt sich, doch bald wird sie in ihrer Nähe von mysteriösen Anfällen heimgesucht, die sie dazu zwingen, in ihrer Vergangenheit und den tiefen Kellern ihrer eigenen Psyche zu wühlen.
Eili Harboe und Okay Kaya
In den Hauptrollen sind die beiden norwegischen Jungschauspielerinnen Eili Harboe und Kaya Wilkins zu sehen. Beide Namen lassen bei dem einen oder anderen ein Glöckchen klingeln: Eili war bereits in diversen (Kurz-)Filmen zu sehen, mit ihrer Verkörperung der titelgebenden Rolle in «Thelma» wird ihr ein Karrierekick prognostiziert. Kaya Wilkins wuchs zwar in Norwegen auf, ist aber schon vor einigen Jahren nach Brooklyn gezogen, wo sie als Model und Musikerin unter dem Namen Okay Kaya arbeitet und bald ihr erstes verträumt-sphärisches Album veröffentlicht. Die Rolle der Anja (Thelmas “Louise”) ist Kayas erster Schritt ins Schauspielbusiness. Die beiden talentierten Frauen zusammengebracht hat Joachim Trier (Sidenote: Dieser ist tatsächlich verwandt mit Regiemogul Lars Von Trier. Man merke sich: Joachim Trier = Norwegen, Lars Von Trier = Dänemark).
Kaya singt auch, am liebsten langsam und düster.
Joachim Trier und die Reise ins Unterbewusste
Mit Filmen wie «Louder Than Bombs» und «Oslo, 31. August» beschäftigte sich Trier (der in eine Filmemacher-Familie geboren schon von klein auf auf Sets war) mit den Tiefen von Vater-Kind-Beziehungen. Ursprünglich wollte er mit seinem (übrigens immer gleichen) Team in «Thelma» die schwierige Beziehung von erzkatholischen overprotective Eltern und deren neugierigen heranwachsenden Tochter, die nach ihrem eigenen Willen handelt, verfilmen, ein klassisches Coming-of-Age-Drama. Dabei geht Joachim Trier einen Schritt weiter und arbeitet mit dem Unterbewusstsein und surrealen, symbolisch aufgeladenen Sequenzen. So wird Thelma von vermeintlich epileptischen Anfällen heimgesucht, die sich als psychogene nicht-epileptische Anfälle herausstellen. Epileptische Anfälle werden durch sogenannte Trigger ausgelöst (beispielsweise visuell durch schnell flackerndes Licht). Dabei synchronisieren sich die neurologischen Wellen im Gehirn, worauf sich viele Nerven kurzschlussartig gleichzeitig entladen, was so zu den krampfhaften Anfällen führt. Psychogene nicht-epileptische Anfälle hingegen sind nicht biologisch erklärbar, sondern werden durch unterbewusst verdrängte Wünsche und Verlangen der Psyche – den 90% des Eisberges, die unter der Wasseroberfläche weilen – ausgelöst. Von diesem Thema aus spinnt Trier nun seine Geschichte und bringt den eigentlichen roten Faden, die Liebesgeschichte zwischen Thelma und Anja, in das Drehbuch. Die Liebe zwischen den beiden jungen Frauen steht im krassen Widerspruch dazu, was sich Thelmas Eltern wünschen und was auch der Vorstellung der Gesellschaft entspricht – geboren ist der (innere) Konflikt. Zusätzliches Bingo: Die LGBT-Bewegung ist im Jahr 2018 auch eines der Topthemen in den Medien, der Kunst, des alltäglichen Lebens. Fertig war nun also das Script für Thelma, einem trippy surreal-lesbischen und so 2018 Horror-Coming-of-Age-Drama.
Sidenote: Wer an Epilepsie leidet, sollte bei «Thelma» vorsichtig sein: Ich selbst musste bei gewissen Strobolicht-Szenen die Augen schliessen und ebendiese Szenen haben meinen Puls für den Rest des Tages auf ruhelose, nahezu 100 BPM gejagt.
Überfüllter Clash der Genres
Doch was ist «Thelma» nun genau? Ein wenig Minimalismus hätte dem Film gut getan. Trier befasst sich mit Themen, die alleine für sich ultra spannend sind, zusammen in einen Film gepfercht aber unorganisiert wirken. Auf der einen Seite haben wir das Coming-of-Age-Drama: Jugendliche, die mit den Tücken des Erwachsenwerdens kämpfen – ich persönlich kann von solchen Erzählungen nie genug kriegen. Loslösung vom Elternhaus, Umzug an einen neuen Ort, neue Leute, lange Nächte, Parties, Alkohol, erste Liebe. Dazu der Einsatz von Social Media (So erfährt Thelma zu Beginn anhand eines Instagram-Posts, dass Anja in einer Bar mit Freunden trinkt, denen sie sich sogleich nach der digitalen Spionage “rein zufällig” anschliesst.) Mit diesem Stoff lassen sich gut und gerne 90 Minuten Suspense füllen – im besten Fall im Stil einer zarten Romanze à la «Call Me By Your Name».
Dies ist aber nicht genug für Trier. Vom Wunsch getrieben, mit surrealen Bildsequenzen zu experimentieren, bringt der Regisseur seine Protagonistin in eine dunkel verworrene Situation nach der anderen. Einmal will sie eine Schlange erwürgen, dann flattert ihr ein Vogel aus dem Mund, plötzlich ist Thelma wie unter einer Eisschicht im Schwimmbecken gefangen, sie entzündet Feuer, bringt Leute zum Verschwinden. Eine wirre Berg- und Talfahrt von Traumfetzen zu Traumfetzen. Rein visuell sind diese Sequenzen schön anzusehen und würden sich perfekt für Kurzfilme oder Musikvideos eignen. Zusammen in einem Film fehlt ihnen allerdings die Beständigkeit. So haben die symbolischen Bilder von Natur, Elementen und Lebewesen meist nicht viel miteinander zu tun und verlangsamen nur den Verlauf des Filmes ungemein anstatt den Plot anzuheizen. Dazu kommen Flashbacks aus Thelmas Kindheit, in der klar wird, dass sie telekinetische Fähigkeiten besitzt: Wenn Thelma etwas will, passiert dies so (Daher der Name: Thelma bedeutet im Griechischen “Wille”.). So sind die surrealen Sequenzen Auswüchse ihrer unbefriedigten Bedürfnisse, die durch ihre Eltern unterdrückt werden und die andere Fragen ins Spiel bringen: Wie sehr dürfen Eltern über ihre Kinder bestimmen? Zu was führt eine strikte pädagogische Kontrolle und wie können Heranwachsende dieser entfliehen, um ihre eigene Identität zu finden? Anstatt Thelmas Wesen zu akzeptieren, dröhnen ihre Eltern sie mit Psychopharmaka zu, um sie von ihren “Dämonen” zu befreien – mit verheerenden Folgen.
So ist «Thelma» ein Mix aus «The Exorcist» (Von “Dämonen” besessen), «Carrie» (Unterdrückung von strengreligiösen Eltern und paranormale Aktivitäten), «La Vie D’Adèle» (wunderschön aufblühende lesbische Liebe) und wohl noch so einigen anderen Streifen (Wie beispielsweise die beiden Body Horror-Coming-of-Age-Streifen des letzten Jahres: «Blue My Mind» und der supertense Schocker «Raw»). Nur schlägt leider keine dieser verschiedenen Themen oder Genres vollständig durch. So sind die beiden Protagonistinnen zu einseitig skizziert, um den Film vollständig als Romanze tragen zu können. Dazu sind die übernatürlichen Szenen für die Kernaussage visuell zu weit gefächert und lenken mehr von den reichhaltigen psychologischen und philosophischen Fragen ab als diese zu unterstreichen. Somit ist «Thelma» sehr vieles auf einmal, nur etwas fehlt: Der Fokus. Dies ist mitunter wohl auch der Grund, wieso es «Thelma» nicht in die Endauswahl der Oscar-Kategorie für den besten fremdländischen Film geschafft hat – ob dies nun gut oder schlecht ist, kann jeder für sich selbst entscheiden.
Fazit:
«Thelma» ist ein tiefenpsychologischer Coming-of-Age-Streifen über Loslösung von Erwartungen anderer, Identität und Selbst-Akzeptanz in einer modernen und visuell aufregenden Verpackung, die den Inhalt aber nicht immer ganz zusammenzuhalten mag und über die 120 Minuten Lauflänge in seiner trippy visuellen Schönheit auseinander fällt.
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Kinostart: 22. März 2018. / Regie: Joachim Trier / Mit: Eili Harboe Kaya Wilkins Ellen Dorrit Petersen Henrik Rafaelsen
Trailer- und Bildquelle: https://outside-thebox.ch
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