«Three Thousand Years of Longing» stand schon seit den späten Neunzigerjahren ganz oben auf der Projekt-Wunschliste des australischen Regisseurs George Miller. Jetzt hat es der Mann hinter «Mad Max» endlich geschafft – und das Resultat, eine schwelgerische Fantasy-Romanze über das Geschichtenerzählen, ist absolut sehenswert, nicht zuletzt dank Tilda Swinton und Idris Elba.
Wir präsentieren die Vorpremiere von «Three Thousand Years of Longing» am 7.9. im Arthouse Le Paris. Tickets gibt es hier: https://bit.ly/3000YearsVorpremiereLeParis
Wozu sind Geschichten gut? Dem Ergründen dieser Frage hat die renommierte Narratologin Dr. Alithea Binnie (Tilda Swinton) praktisch ihr ganzes Leben verschrieben – obschon die Antwort, zumindest aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts, auf der Hand zu liegen scheint: Geschichten vertreiben die Zeit. Sie füllen die Leerstellen, die einem im Alltag zwangsläufig begegnen: Ein freier Abend wird im Kino oder vor dem Fernseher verbracht. In der Warteschlange arbeitet man sich auf dem Smartphone durch Instagram-Storys und TikTok-Videos, oder man hört sich gesungene «Geschichten» auf Spotify an. Und was wäre schon ein Langstreckenflug ohne ein Buch in der Hand, oder ohne narrative Unterhaltung auf dem kleinen Bildschirmchen in der Rückenlehne des Vordersitzes?
Doch es lohne sich, mahnt Alithea bei einem Vortrag in Istanbul, sich daran zu erinnern, was das Geschichtenerzählen einst für die Menschheit bedeutete: Es waren Geschichten von Göttern, Dämonen, Heroen und beseelten Objekten, die als Erklärungen für natürliche Phänomene wie Jahreszeiten und die Gezeiten dienten. Erzählt wurden diese Geschichten von Hohepriester*innen, Orakeln, Prophet*innen – Menschen an der Schwelle zum Übernatürlichen, die, ganz profan betrachtet, grossen gesellschaftlichen Einfluss genossen. Geschichten mögen unterhaltsam sein, ja; doch in ihnen stecken auch magische Kräfte und ausnutzbare Machtgefälle.
«Geschichten mögen unterhaltsam sein, ja; doch in ihnen stecken auch magische Kräfte und ausnutzbare Machtgefälle.»
Dass dies mehr als nur kulturtheoretisches Wissen ohne praktischen Anwendungszweck ist, bekommt Alithea auf ihrer Istanbul-Reise am eigenen Leib zu spüren. Nach einigen unheimlichen Begegnungen mit gespensterhaften Fabelwesen, die sich im Zeitalter von Flughäfen und Power-Point-Präsentationen gegen die eigene Überflüssigkeit zur Wehr zu setzen scheinen, macht sie Bekanntschaft mit einem waschechten Dschinn (Idris Elba), der ihr denn auch prompt die obligaten drei Wünsche anbietet.
Doch so leicht lässt sich die überzeugte Einzelgängerin Alithea nicht um den Finger wickeln: Die Dschinns, die sie aus der arabischen und nordafrikanischen Folklore kennt, sind Schwindlerfiguren; und Geschichten über magisch erfüllte Wünsche nehmen für die wünschende Person nie ein gutes Ende. Es scheint, als wäre die Akademikerin immun gegen die Verlockungen des riesenhaften Rauchwesens, das ihr im Frottee-Bademantel gegenübersteht und dieselben Leckereien anbietet, mit dem es einst die Königin von Saba (Aamito Lagum) bezirzte. Doch dann beginnt der Dschinn, ihr zu erzählen, wie er die letzten drei Jahrtausende verbracht hat – und warum sein ewiges Leben davon abhängt, dass Alithea ihm drei erfüllbare Herzenswünsche vorlegt.
«‹Three Thousand Years of Longing› ist der erste Film, den der Australier George Miller seit seinem oscarprämierten Actionspektakel ‹Mad Max: Fury Road› realisiert hat – und ein gehöriger Gangwechsel: schwelgerisch statt bombastisch, dialog- statt explosionslastig, emotional intim statt episch ausladend.»
«Three Thousand Years of Longing», adaptiert nach A. S. Byatts Kurzgeschichte «The Djinn in the Nightingale’s Eye», ist der erste Film, den der Australier George Miller seit seinem oscarprämierten Actionspektakel «Mad Max: Fury Road» (2015) realisiert hat – und ein gehöriger Gangwechsel: schwelgerisch statt bombastisch, dialog- statt explosionslastig, emotional intim statt episch ausladend. (Innerhalb von Millers Werk, zu dem neben der «Mad Max»-Reihe auch die familienfreundlichen Zweiteiler «Babe» und «Happy Feet» gehören, lässt sich sein neuester Wurf wohl am ehesten mit der düsteren Fantasykomödie «The Witches of Eastwick» von 1987 vergleichen.)
Diese allgemeine Reduktion, die zu einem gewissen Grad auch den COVID-konformen Dreharbeiten geschuldet ist, bedeutet jedoch nicht, dass sich Miller hier ganz von seiner Vorliebe für erzählerische und stilistische Extravaganzen lossagt. Ein grosser Teil von «Three Thousand Years of Longing» ist den Geschichten des Dschinns gewidmet, in denen Szenenbild, Kostüme und CGI einige Kapriolen schlagen – Zobelfell-Lustkäfige und teuflische Spinnenmonster inklusive.
Alithea erfährt, wie ihr persönlicher Flaschengeist am von allerlei mythischen Kreaturen bevölkerten Hof der sagenhaften Königin von Saba mit ansehen musste, wie diese sich von König Salomon (Nicolas Mouawad) verführen liess; wie er unbeabsichtigt die Politik des jungen Osmanischen Reich in neue, unverhofft melodramatische Bahnen lenkte; und wie er im 19. Jahrhundert den Wissensdurst eines jungen Universalgenies (Burcu Gölgedar) zu stillen versuchte.
Man ist versucht, diese märchenhaft entrückten Sequenzen Abschweifungen zu nennen, liegt der emotionale Fokus von Millers Film doch unmissverständlich auf seinen beiden erzählenden Hauptfiguren: Weder die Königin von Saba noch Salomon noch die jungen osmanischen Sultane und Konkubinen, mit denen sich der Dschinn zu arrangieren hatte, sind je mehr als vage umrissene Charaktere – untrennbar verbunden mit ihrer Funktion in der Biografie des Flaschengeistes, unfähig, ein Eigenleben zu entwickeln.
«Während Alithea ihre Geschichte in Form eines modernen Märchens erzählt, um ihrer schieren Unglaublichkeit einen fassbaren Rahmen zu verleihen, ist die Erzählung des Dschinns Selbstzweck, Genre-Subversion und Reflexion über das Geschichtenerzählen in einem.»
Doch gerade in ihnen verbirgt sich letztlich der thematische Kern von «Three Thousand Years of Longing». Während Alithea ihre Geschichte in Form eines modernen Märchens erzählt, um ihrer schieren Unglaublichkeit einen fassbaren Rahmen zu verleihen, ist die Erzählung des Dschinns Selbstzweck, Genre-Subversion und Reflexion über das Geschichtenerzählen in einem: Wie die Scheherazade in «Tausendundeiner Nacht» erzählt er – der Geist, an den die Menschen nicht mehr glauben –, damit er und die Menschen, die er im Laufe der Jahrtausende getroffen und geliebt hat, die Zeit überdauern dürfen. Anders als bei Scheherazade dient sein Erzählen nicht nur der Selbsterhaltung, sondern auch dem Bewahren kostbarer Erinnerungen – und im Unterschied zu ihr muss er nicht einen frauenhassenden König von seinem Wert überzeugen, sondern eine unabhängige, sich selbst genügende Narratologin.

Tilda Swint und Idris Elba.
Tatsächlich glänzt der Film aber vor allem dann, wenn sich Tilda Swinton und Idris Elba in Alitheas geschichtsträchtigem Hotelzimmer – dort, wo einst Agatha Christie den Krimiklassiker «Murder on the Orient Express» niedergeschrieben haben soll – in narratologisch-historischer Exegese üben. Nicht nur zeigt sich das Drehbuch von Miller und Augusta Gore in diesen Szenen von seiner anregendsten Seite; es ist auch ein grosses Vergnügen, Swinton und Elba in diesem fast schon theaterhaften Setting dabei zu beobachten, wie sie ihre beiden Figurenkarikaturen – den Flaschengeist und die allzu analytische Eigenbrötlerin – zunehmend menschlicher machen. Bisweilen scheint sich Swinton, schauspielerisch irgendwo zwischen «Doctor Strange» (2016) und «Memoria» (2021) agierend, sogar an einer feinen, liebevollen Verballhornung ihrer eigenen Leinwand-Persona zu versuchen.
«‹Three Thousand Years of Longing› ist ein bewundernswert unbeirrbares, hoffnungslos aus der Zeit gefallenes Original voller überhöhter Romantik und offenherziger Liebe für das Geschichtenerzählen. Es ist ein Film, der von Herzen kommt.»
Ein weiterer Grund, warum die Gegenwart – trotz einer nicht ganz zu Ende gedacht wirkenden Schlusspassage – der spannendere Schauplatz von «Three Thousand Years of Longing» ist, ist ein für Miller gänzlich untypisches Defizit: Kreierten er, Kameramann John Seale und Schnittmeisterin Margaret Sixel mit «Mad Max: Fury Road» noch eine der atemberaubendsten Bilderfluten der letzten 20 Jahre, fällt die Bildsprache in ihrer Fabel von Alithea und dem Flaschengeist ein bisschen zu brav aus. Die Rückblenden des Dschinns, obgleich durchaus hübsch anzusehen und gespickt mit konzeptuellen Geistesblitzen, werden, mit wenigen Ausnahmen, ziemlich gewöhnlich inszeniert. Zwar wird auch Alitheas Hotelzimmer nicht sonderlich unkonventionell in Szene gesetzt – im Gegenteil –, doch weil hier nicht die visuelle, sondern die thematische Substanz im Zentrum steht, fällt das weniger ins Gewicht.
Es ist also ein unvollkommenes, unverhohlen orientalistisches Werk, mit dem sich Miller sieben Jahre nach seinem vielleicht grössten Erfolg zurückmeldet. Gleichzeitig ist «Three Thousand Years of Longing» aber auch ein bewundernswert unbeirrbares, hoffnungslos aus der Zeit gefallenes Original voller überhöhter Romantik und offenherziger Liebe für das Geschichtenerzählen. Es ist ein Film, der von Herzen kommt – und das ist schon sehr viel wert.
Über «Three Thousand Years of Longing» wird auch in Folge 49 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 8.9.2022
Filmfakten: «Three Thousand Years of Longing» / Regie: George Miller / Mit: Tilda Swinton, Idris Elba, Burcu Gölgedar, Ece Yüksel, Aamito Lagum, Kaan Guldur, Matteo Bocelli / USA, Australien / 108 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite Entertainment Group
«Three Thousand Years of Longing» ist nicht perfekt, glänzt aber mit anregenden Ideen, einer spannenden Auseinandersetzung mit dem Geschichtenerzählen und zwei grossartigen Hauptdarsteller*innen.
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