In ihrem erst zweiten Langspielfilm, dem wunderschönen, grandios abstossenden Palme-d’or-Gewinner «Titane», stellt die französische Regisseurin Julia Ducournau eines klar: Sie ist eine Meisterin des Body-Horrors.
Schon Julia Ducournaus Erstling zog 2016 sehr viel Aufmerksamkeit auf sich: «Grave», international vertrieben als «Raw», erzählte die Geschichte einer sich strikt vegetarisch ernährenden Veterinärstudentin, die in der ersten Woche ihres Studiums zum Verzehr einer rohen Kaninchenniere genötigt wird und fortan von einem unstillbaren Hunger auf Menschenfleisch erfüllt ist. Zudem: blutig gekratzte Hautreizungen, ein gehörig aus dem Ruder laufendes Bikini-Waxing und ein Skistock als Mordinstrument. «Grave» wirkte faszinierend und abstossend zugleich; die Vergleiche mit den Ekel-Grossmeistern John Waters («Pink Flamingos») und David Cronenberg («Videodrome», «eXistenZ») liessen nicht lange auf sich warten.
Wer schon damit Mühe bekundete, wird sich wahrscheinlich auch mit Ducournaus Zweitwerk nicht anfreunden können. «Titane», der beim diesjährigen Festival von Cannes den Hauptpreis gewann, ist noch ambitionierter, noch brutaler, noch ekliger und noch Waters- und Cronenberg-iger als sein Vorgänger.
«‹Titane›, der beim diesjährigen Festival von Cannes den Hauptpreis gewann, ist noch ambitionierter, noch brutaler, noch ekliger und noch Waters- und Cronenberg-iger als sein Vorgänger.»
Letzteres lässt sich bereits an der Prämisse ablesen: Alexia (Agathe Rousselle) ist eine junge Frau mit einer Titanplatte im Kopf, die ein besonderes Verhältnis zu Autos pflegt. Nicht nur ist es ihr Beruf, sich lasziv und leicht bekleidet auf aufgemotzten Boliden zu räkeln; eines Nachts lässt sie sich sogar von einem ihrer Arbeitsgeräte verführen – und wird prompt schwanger. Cronenbergs Kult-Erotikthriller «Crash» (1996), der von Figuren handelt, bei denen Autounfälle sexuelle Erregung auslösen, lässt grüssen.
Was Ducournau mit dieser Ausgangslage vorhat, ist allerdings weitaus vertrackter. Das Südfrankreich, in dem «Titane» spielt, wird Schauplatz einer Mordserie, im Zuge derer mehrere Menschen einem gezielten Stich ins Gehirn zum Opfer fallen. Ein hölzerner Hocker wird auf blutigste – und seltsam amüsante – Art und Weise zweckentfremdet. Und dann trifft Alexia auf den einsamen Feuerwehrkommandanten Vincent (Vincent Lindon) und verwischt alle Geschlechtergrenzen. Die grossartig aufspielende Agathe Rousselle, die mit einer einzigen Tanzeinlage eine ganze Schar hypermaskuliner Feuerwehrmänner dazu bringt, ihre eigene Sexualität zu hinterfragen, ist ein Bild für die Ewigkeit.
«Die grossartig aufspielende Agathe Rousselle, die mit einer einzigen Tanzeinlage eine ganze Schar hypermaskuliner Feuerwehrmänner dazu bringt, ihre eigene Sexualität zu hinterfragen, ist ein Bild für die Ewigkeit.»
Man kann das alles als billige Provokation abtun; doch damit würde man weder Ducournaus technischem Handwerk noch ihrer thematischen Raffinesse gerecht, geschweige denn dem Potenzial des Kinos, unvergessliche Geschichten und Bilder zu vermitteln. Selbst wer der Auffassung ist, Ducournaus Extremismus überspanne den Bogen des guten Geschmacks, wird nicht abstreiten können, dass «Titane» mit seiner unbeirrbaren Schonungslosigkeit starke Gefühle hervorruft. In Zeiten, in denen stetig wachsende Monopolriesen die Kinokassen mit blassen Reissbrett-Blockbustern dominieren, ist das keine Selbstverständlichkeit.
Doch auch von dieser wohltuenden Originalität abgesehen, begeistert Ducournau in «Titane», wie bereits in «Grave», mit der Zielstrebigkeit ihrer Inszenierung von ungeschönter Körperlichkeit. Was mit Alexias hochgradig ästhetischem Auto-Striptease beginnt, etwickelt sich nach und nach in ein Body-Horrorkabinett: Die Protagonistin malträtiert ihren schwangeren Körper mit eng anliegenden Mullbinden, verpasst sich selber blaue Augen und eine gebrochene Nase; ihr vaginaler Ausfluss gleicht Motoröl. Vincent spritzt sich unter schmerzverzerrtem Gegrunze im neonpinken Badezimmerlicht Steroide in den grün und blau gepieksten Gluteus Maximus.

Alexia (Agathe Rousselle)
«Doch auch von dieser wohltuenden Originalität abgesehen, begeistert Ducournau in ‹Titane›, wie bereits in ‹Grave›, mit der Zielstrebigkeit ihrer Inszenierung von ungeschönter Körperlichkeit. Was mit Alexias hochgradig ästhetischem Auto-Striptease beginnt, etwickelt sich nach und nach in ein Body-Horrorkabinett.»
Im Kontext der wunderbar unvorhersehbaren Geschichte, die Ducournau zwischen diesen beiden gebrochenen Figuren aufzieht, wird dieses körperliche Leiden jedoch zu einem ungemein berührenden Porträt von Liebe und zwischenmenschlicher Fürsorge: Will jemand geliebt werden, muss er oder sie zuerst sich selbst zu akzeptieren lernen, mitsamt der eigenen triefenden, blutenden, aasigen Menschlichkeit. Erst dann kann man sich an den furchteinflössenden Kraftakt wagen, diese Menschlichkeit einer anderen Person zu zeigen.
Rousselle, deren sichtbare physische Anspannung in der zweiten Filmhälfte fast schon unerträglich wirkt, und der grosse Vincent Lindon («La Loi du marché»), der mittels expressiver Körperhaltung und sprechender Blicke eine auf dem Papier schwer fassbare Figur zum emotionalen Anker des Films macht, sorgen mit ihren herausragenden Schauspielleistungen dafür, dass dieser unerwartet zärtliche Ansatz seinen Zweck nicht verfehlt. Somit schlägt «Titane», die gräulichste Familiengeschichte des Jahres, nicht nur auf den Magen, sondern trifft auch mitten ins Herz.
Über «Titane» wird auch in Folge 34 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 7.10.2021
Filmfakten: «Titane» / Regie: Julia Ducournau / Mit: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Bertrand Bonello / Frankreich, Belgien / 108 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Agora Films
Liebe ist kompliziert, menschliche Körper sowieso. Julia Ducournau bleibt in «Titane» ihrem Flair für toll inszenierten Body-Horror treu und legt eine herrlich unappetitliche Familiengeschichte vor.
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