1979 drehten sechs Freunde aus der Berner Hochhaussiedlung Tscharnergut den Super-8-Film «Dr Tscharniblues». In «Tscharniblues II» trommelt Aron Nick, der Sohn eines der Beteiligten, die verbliebenen Fünf für eine berührende Retrospektive zusammen: Was ist aus den Träumen von damals geworden?
Der Heimatboom, der seit der Jahrtausendwende im Schweizer Kino Einzug hält, hat auch vor dem hiesigen Dokumentarfilm – der Paradedisziplin des helvetischen Filmschaffens – nicht Halt gemacht. Im Gegenteil: Während in ländlich angehauchten Spielfilmproduktionen immer wieder auch kritische Töne angeschlagen werden – man denke nur an Markus Imbodens «Verdingbub» (2011) –, scheinen sich die Schweizer Dokumentaristen mindestens seit Stefan Schwieterts hochgelobtem «Heimatklänge» (2007) auf einer Art thematischen Flucht nach innen zu befinden. Die Musik spielt, wie zu Wilhelm Tells Zeiten, auf der Alp: «Die Kinder vom Napf» (2011), «Alpsegen» (2012), «Z’Alp» (2016) und viele andere avancierten zu Publikumslieblingen.
Doch so wie sich Spielfilme wie «Chrieg» (2014) und «Dene wos guet geit» (2017) dem Trend der idyllisch-eidgenössischen Nabelschau widersetzen, wartet mittlerweile auch die Schweizer Dokumentarfilmszene vermehrt mit Perspektiven auf, die der Tatsache Rechnung tragen, dass heute drei Viertel der Landesbevölkerung in urbanen Räumen leben. «Rue de Blamage» (2016), Aldo Gugolz‘ «Problemstrassenporträt», gehört dazu; bald kommt mit «Nach dem Sturm» ein Film über die Innerschweizer 68er-Bewegung in die Kinos.
Und auch «Tscharniblues II» trägt seinen Teil zu dieser überfälligen Entmystifizierung Schweizer Lebens bei. Aron Nicks Dokumentation spielt im Tscharnergut, der ersten Hochhaussiedlung der Schweiz (Baujahr 1959), wo sich sein Vater Bernhard «Bäne» Nick, sein Onkel Bruno Nick sowie deren Freunde Christoph «Eggi» Eggimann, Stefan «Stüfi» Kurt, Stephan «Ribi» Ribi und Yves «Yvu» Progin 1979 als Frühzwanziger den täglichen KV-Frust von der Seele filmten. So entstand «Dr Tscharniblues» – eine Super-8-Rebellion gegen die Vorstadt-Monotonie.
Und dann? Bäne, Ribi und Yvu wurden Lehrer, Stüfi verwirklichte seinen Traum vom Schauspielern – man kennt ihn aus Schweizer Prestigeproduktionen wie «Akte Grüninger» (2013) und «Papa Moll» (2017), wo er die Titelrollen übernahm –, Eggi blickt nach eigener Angabe auf ein «erfolgloses» Leben zurück, Bruno starb 2014 nach 35 Jahren brotloser Kunst.
In diesem intimen Porträt findet Aron Nick die delikate Balance zwischen persönlicher Beteiligung und respektvollem Abstand. Er gehört zu einem gewissen Grad zu dieser Männerriege dazu – sein Austausch mit Papa Bäne über seine verstorbene Mutter gehört zu den bewegendsten Momenten des Films –, seine Interviewfragen sind prägnant und präzise, doch oft nimmt er sich auch zurück, um den Gesprächen seiner Protagonisten freien Lauf zu lassen.
«Tscharniblues II» interessiert sich für Freundschaft und wie sie sich verändert, gerade vor dem soziokulturellen Hintergrund der Tscharnergut-Clique: Wohin hat der jugendliche Aufstand gegen den bürgerlichen Trott geführt? Wie findet man seinen Platz in einer Welt, die sich beharrlich nicht nach den eigenen idealistischen Vorstellungen richten will? Was geht verloren, wenn der Spielplatz aus Kindertagen (mit Ausnahme der denkmalgeschützten Betoneisenbahn) abgerissen wird?
«Ein vielschichtiger Film, der irgendwie auch ein vom Kino lange ignoriertes Kapitel Schweizer Geschichte verarbeitet.»
Nick verwebt diese Einblicke in die Gegenwart der einstigen Tscharni-Buben zu einem vielschichtigen Film, der irgendwie auch ein vom Kino lange ignoriertes Kapitel Schweizer Geschichte verarbeitet: Denn vor lauter Kühen und Alphütten auf den Leinwänden geht gerne vergessen, dass das Aufwachsen im suburbanen Hochhauskomplex eine nicht minder «schweizerische» Erfahrung ist.
Am Sonntag, 7. April, findet im Kino Riffraff in Zürich um 21 Uhr in Anwesenheit von Regisseur Aron Nick eine Vorpremiere von «Tscharniblues II» statt.
Eine weitere Vorpremiere in Anwesenheit des Regisseurs (mit anschliessendem Q&A) findet am Mittwoch, 10. April, um 18.30 Uhr im Kino Bourbaki in Luzern statt. Moderation: Alan Mattli, Maximum Cinema.
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Kinostart Deutschschweiz: 11.4.2019
Filmfakten: «Tscharniblues II» / Regie: Aron Nick / Mit: Bernhard Nick, Christoph Eggimann, Stefan Kurt, Stephan Ribi, Yves Progin / Schweiz / 84 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmbringer
Fünf spannende Protagonisten, ein berührender Film: «Tscharniblues II» ist ein hervorragendes Porträt vom Aufwachsen und Älterwerden in der urbanen Schweiz.
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