«Unbelievable» ist aktuell die wohl beste Krimiserie. Sie erzählt die wahre Geschichte über eine Vergewaltigungsserie und eine junge Frau, der niemand glaubte. Die von Netflix produzierte und mehrheitlich von Frauen konzipierte Miniserie zeigt auf brillante Weise, wie die sogenannte «rape culture» unsere Gesellschaft prägt. Merritt Wever und Toni Collette glänzen als hartnäckiges Ermittlerinnengespann.
Ein Mann vergewaltigt eine junge Frau, sie geht daraufhin zur Polizei, doch die männlichen Polizisten behandeln sie wie eine Verdächtige. Die Polizisten kommen zum Schluss, sie habe alles erfunden. Immer wieder reden sie ihr ein, sie solle es endlich zugeben. Schlussendlich bricht die Frau ein und sagt, sie habe alles erfunden. Doch der Alptraum ist noch nicht vorbei: Sie wird wegen Falschaussage angeklagt und muss ein Bussgeld zahlen. Ihr richtiger Name wird online bekannt gemacht, sie erhält Drohungen und Hassmails. Die junge Frau ist psychisch am Ende.
Drei Jahre später ermitteln zwei Detektivinnen unabhängig voneinander in ungelösten Vergewaltigungsfällen. Durch Zufall merken sie, dass ihre Fälle sehr ähnlich sind. Sie sind sich sicher, dass sie es mit ein und demselben Täter zu tun haben und legen ihre Untersuchungen zusammen. Nach und nach wird klar, dass die anfangs erwähnte junge Frau ebenfalls zu den Opfern des Täters gehört. Sie hat von Anfang an die Wahrheit gesagt, doch niemand hat ihr geglaubt.
«Das klingt alles unfassbar, beruht aber auf tatsächlichen Ereignissen.»
Das klingt alles unfassbar, beruht aber auf tatsächlichen Ereignissen, die sich zwischen 2008 und 2011 in den US-Bundesstaaten Washington und Colorado zugetragen haben. Mit dieser wahren Geschichte befasst sich die von Netflix produzierte Miniserie «Unbelievable» aus der Feder von Susannah Grant («Erin Brockovich»), Ayelet Waldman und Michael Chabon. Als Vorlage diente der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Zeitungsartikel «An Unbelievable Story of Rape» aus dem Jahr 2015 der Journalisten T. Christian Miller und Ken Armstrong.
«Unbelievable» setzt im Bundesstaat Washington ein mit der 18-jährigen Marie (Kaitlyn Dever) – die zu Beginn erwähnte Frau, der niemand geglaubt hat. Sie lebt in einer Wohnsiedlung für verhaltensauffällige Jugendliche. Zuvor wurde sie von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht.
Eines morgens ruft Marie die Polizei an und erzählt, sie sei letzte Nacht vergewaltigt worden. Ein Mann stand plötzlich in ihrem Schlafzimmer, und hielt ihr ein Messer an den Hals. Er verband ihre Augen, fesselte und vergewaltigte sie. Über mehrere Stunden. Er machte Fotos von ihr und drohte, sie online zu stellen, falls sie irgendjemandem davon erzähle.
Nachdem Marie der eingerückten Polizei bereits zwei Mal die Vergewaltigung geschildert hat, muss sie den führenden Detectives Parker (Eric Lange) und Pruitt (Bill Fagerbakke) auf dem Revier das Ganze zum x-ten wiederholen. Sie ist müde, hat Kopfschmerzen und steht offensichtlich unter Schock. Sie verzettelt sich in ihren Aussagen und die beiden Detectives zweifeln an Maries Beschreibungen.
Während sie ihre Geschichte den Ermittlern schildert, tauchen immer wieder sekundenschnelle Flashbacks von der Tat auf. Die Vergewaltigung wird mit Point-of-View-Shot» von Maries subjektiver Perspektive gezeigt. Die Kameralinse ist dabei bedeckt, da der Täter Maries Augen verbunden hat. Genau wie Marie sehen wir nur bruchstückhafte Bilder. Indem Marie ihre Geschichte immer wieder erzählen muss, zwingen sie die Ermittler die Vergewaltigung ständig aufs Neue zu durchleben, wieder und wieder – und wir zusammen mit ihr.
«Selten hat eine Serie, geschweige denn eine Krimiserie, die Auswirkungen sexueller Gewalt so empathisch aufgegriffen. Im Gegensatz zur Mehrheit der TV- und Filmproduktionen nimmt ‹Unbelievable› in seiner Darstellung der weiblichen Opfer nie einen voyeuristischen Blick ein und ergötzt sich nicht an ihrem Leid.»
Selten hat eine Serie, geschweige denn eine Krimiserie, die Auswirkungen sexueller Gewalt so empathisch aufgegriffen. Im Gegensatz zur Mehrheit der TV- und Filmproduktionen nimmt «Unbelievable» in seiner Darstellung der weiblichen Opfer nie einen voyeuristischen Blick ein und ergötzt sich nicht an ihrem Leid.
Mit derselben Empathie zeigt die Serie die Auswirkungen des Traumas auf das Opfer. Es ist medizinisch längst erwiesen, dass Vergewaltigungsopfer häufig keine zusammenhängenden oder vollständigen Erinnerungen an das traumatische Geschehen haben. Manche Opfer erinnern sich beispielsweise an einen spezifischen Geruch, aber nicht an den exakten Ablauf einzelner Handlungen.
Stehen Menschen unter Todesangst, wird ihr Gehirn mit Stresshormonen überflutet, die wiederum unsere Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigen. Dass sich Marie nicht an alles erinnert, macht ihre Aussage also keineswegs weniger glaubwürdig.
Der bewusste Verzicht auf einen voyeuristischen männlichen Blick («male gaze») in «Unbelievable» liegt zweifelsohne daran, dass die Serie mehrheitlich von Frauen konzipiert wurde. Ayelet Waldman erlangte Bekanntheit mit ihrem Essayband «Bad Mother» (2009), mit dem sie das Ideal der perfekten Mutter hinterfragte.
Die oscarnominierte Susannah Grant hat das Drehbuch zu Steven Soderberghs Film «Erin Brockovich» (2000) sowie zum HBO-Film «Confirmation» (2016) verfasst. Letzterer befasst sich mit der US-Strafrechtsprofessorin Anita Hill, die den späteren Richter des Obersten Gerichtshof, Clarence Thomas, der sexuellen Belästigung beschuldigte.
Darüber hinaus sass die Co-Showrunnerin Grant gleich bei zwei Episoden von «Unbelievable» auf dem Regiestuhl, während die Emmy-prämierte Filmemacherin Lisa Cholodenko («The Kids Are Alright», «Olive Kitteridge») bei drei Episoden Regie führte.
Doch Frauen spielen in der Serie nicht nur hinter der Kamera tragende Rollen, sondern auch vor der Kamera. Nachdem die erste Episode von «Unbelievable» Maries Geschichte aufgegleist hat, springt die Serie in der zweiten Episode drei Jahre nach vorne, und führt die Ermittlerinnen Karen Duvall (Merritt Wever) sowie Grace Rasmussen (Toni Collette) ein.
Duvall aus Golden in Colorado ermittelt gerade in einem Vergewaltigungsfall. Als sie ihrem Mann davon erzählt, fallen ihm Zusammenhänge mit einer Vergewaltigung auf, mit der sich seine Kollegin Grace Rasmussen im benachbarten Westminster befasst.
Die beiden Ermittlerinnen merken schnell, dass ihre Fälle sehr ähnlich sind. Beide Male ging der Täter äusserst methodisch vor und die Aussagen der beiden Opfer sind beinahe identisch. Duvall und Rasmussen gehen davon aus, dass es noch viel mehr ungelöste Vergewaltigungsfälle mit demselben Muster gibt.
Und sie haben recht, denn Vergwaltigungen haben bei der Polizei eine viel tiefere Priorität als beispielsweise Mord. Die Ermittlerinnen führen ihre Untersuchungen zusammen und machen sich hartnäckig auf die Jagd nach dem Serienvergewaltiger.
Wie Duvall und Rasmussen mit den Vergewaltigungsopfern umgehen, unterscheidet sich komplett von den männlichen Ermittlern aus der ersten Episode. Sie hören den Opfern zu, unterbrechen sie nicht bei der Aussage und begegnen ihnen mit Respekt. So sieht vorbildliche Polizeiarbeit aus.
Die Serienlandschaft ist vollgespickt mit männlichen Cop-Duos. Es gibt durchaus klischeefreie und realistische Ermittlerinnen. Jedoch arbeiten sie meistens zusammen mit einem männlichen Kollegen (Olivia Colman in «Broadchurch», Gillian Anderson in «X-Files») oder sie sind Einzelkämpferinnen (Helen Mirren in «Prime Suspect», Krysten Ritter in «Jessica Jones»). Ermittlerinnen-Duos sind eine absolute Seltenheit.
«Ermittlerinnen-Duos sind eine absolute Seltenheit.»
Umso erfrischender ist es, endlich zwei nuanciert gezeichnete weibliche Figuren wie Duvall und Rasmussen als Cop-Duo zu sehen. Vor allem wenn sie von grossartigen Schauspielerinnen wie der US-Amerikanerin Merritt Wever («Nurse Jackie», «Godless») und der Australierin Toni Collette («Little Miss Sunshine», «Hereditary») porträtiert werden.
Bevor nun irgendwelche weinerlichen Typen aufheulen, wie verzerrt die Männer wieder mal von Feministinnen dargestellt würden: Die Figuren sind allgemein vielschichtig gezeichnet, selbst die männlichen Polizisten, die Maries Geschichte keinen Glauben geschenkt haben. Schliesslich ist es als Zuschauer viel einfacher, ein frauenverachtendes Scheusal wie Harvey Weinstein zu verurteilen, als den freundlichen Familienvater von nebenan.
Die Serie porträtiert Männer auch nicht per se als Bösewichte. Die Ehemänner von Duvall und Rasmussen unterstützen sie liebevoll und nehmen ihnen den Grossteil der Arbeit zu Hause ab, wenn sie eine Spätschicht im Büro hinlegen. Und obwohl die Erzählung eine feministische Perspektive einnimmt, kommen nicht alle Frauen in der Serie gut weg.
So erzählt ausgerechnet die Pflegemutter von Marie den Polizisten, sie habe Zweifel an der Geschichte ihres Pflegekindes. Vorurteile über Vergewaltigungen und über das Verhalten von Opfer sexueller Gewalt sind in der Gesellschaft als Ganzes verankert.
In acht Folgen zeichnet «Unbelievable» einen nervenaufreibenden «True Crime»-Fall nach. Dabei hebt sie sich in ihrem Ansatz von bisherigen Krimis und Serien mit ähnlichem Inhalt ab. Sie schlachtet die sexuelle Gewalt gegenüber den weiblichen Figuren nicht voyeuristisch aus, sondern stellt die subjektive Erfahrung der Opfer ins Zentrum.
«Die Serie glänzt mit vielschichtigen Figuren und phänomenalen Darstellerinnen wie Kaitlyn Dever, Merritt Wever, und Toni Collette.»
Die Serie glänzt mit vielschichtigen Figuren und phänomenalen Darstellerinnen wie Kaitlyn Dever, Merritt Wever, und Toni Collette. «Unbelievable» hält uns schonungslos den Spiegel vor und zeigt, wie fest die sogenannte «rape culture» unsere Gesellschaft und unser Justizsystem prägt – eine Kultur, die die Körper von Frauen objektiviert, sexuelle Gewalt verharmlost, und den Opfern eine Mitschuld an sexuellen Übergriffen zuschreibt.
Nun könnte man schnell meinen, solche Geschichten spielen sich nur in den guten alten US and A ab. Ein Land, in dem zwei amtierende Richter des Obersten Bundesgerichtshofs der sexuellen Belästigung beschuldigt wurden, und seit den 1980er Jahren über zwanzig Frauen den heutigen Präsidenten der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung beschuldigt haben.
Doch eine kürzlich veröffentlichte Umfrage von Amnesty International und dem Forschungsinstitut gfs.bern hat aufgezeigt, dass die Schweiz hinsichtlich der sexuellen Gewalt ebenfalls schlecht dasteht. So hat mindestens jede fünfte Frau ab sechzehn Jahren einen sexuellen Übergriff erlebt, und mehr als jede zehnte Frau erlitt Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen.
Über die Hälfte aller befragten Frauen hat eine Belästigung in Form von unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen erlebt. Lediglich acht Prozent der Frauen haben Anzeige bei der Polizei erstattet. Die Dunkelziffer ist also erschreckend hoch.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Unbelievable» / Creators: Susannah Grant, Ayelet Waldman, Michael Chabon / Mit: Toni Collette, Merritt Wever, Kaitlyn Dever, Eric Lange, Bill Fagerbakke, Elizabeth Marvel, Danielle Macdonald / USA / 8 Episoden à 43–58 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
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