«Uncut Gems» ist filmgewordener Dauerstress – und gerade deshalb etwas vom Besten, was das zeitgenössische Thrillerkino zu bieten hat.
Die Geschichte des windigen New Yorker Juweliers Howard Ratner (Adam Sandler) erinnert ein wenig an den Blogger Kyle MacDonald, der zwischen 2005 und 2006 mit einer einzelnen roten Büroklammer als Startkapital eine Reihe geschickter Tauschgeschäfte tätigte und nach weniger als zwölf Monaten ein Haus sein Eigen nennen konnte. Doch was bei MacDonald ein spielerisches soziales Experiment war, ist bei Howard bitterer Ernst: Da er beim halben «Diamond District» – dem Epizentrum der mafiösen amerikanischen Edelstein-Branche – in der Kreide steht, verjubelt er anderer Leute Geld, verpfändet die Sicherheiten seiner Kunden und feilscht um immer grössere Darlehen, um sich die Schlägertrupps seiner Gläubiger ein paar Stunden länger vom Leib zu halten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er es nach monatelanger Arbeit endlich geschafft hat, einen seltenen unbearbeiteten Opalbrocken aus Äthiopien einfliegen zu lassen und einem Auktionshaus anzudrehen – denn auch dieses begehrte Sammlerstück fällt seiner nimmermüden Schacherei zum Opfer, nachdem der sich selbst spielende NBA-Profi Kevin Garnett es zu seinem Spiel-Talisman erklärt.
«Atemlose, einander überlagerne Dialoge vermengen sich mit Daniel Lopatins nervösem Synthesizer-Musikscore zu einem immersiv-überwältigenden Soundteppich.»
Wer nach dem letzten Film des Brüderpaars Josh und Benny Safdie, dem in der Schweiz leider arg gefloppten Thriller «Good Time» (2017), dachte, die beiden hätten damit den Höhepunkt des nervenaufreibenden Kinos erreicht, sollte sich in ihrer fünften gemeinsamen Regiearbeit auf etwas gefasst machen. Von der ersten Szene an erhöhen die Safdies die Schlagzahl: Atemlose, einander überlagerne Dialoge vermengen sich mit Daniel Lopatins nervösem Synthesizer-Musikscore zu einem immersiv-überwältigenden Soundteppich, der das Publikum sogleich mit der niemals endenden Hektik von Howards Alltag konfrontiert. Noch in der ersten Sequenz, in welcher der grandios aufspielende Adam Sandler zu sehen ist, finden parallel geschätzt drei hitzige Auseinandersetzungen statt.
Es gilt, sich möglichst rasch an dieses halsbrecherische Tempo auf allen Ebenen zu gewöhnen, denn Zeit zum Verschnaufen bleibt in den folgenden 135 Minuten so gut wie keine. Wie könnte es auch, hat Howard doch die Angewohnheit, sich in praktisch jeder Lage an den Rand einer Schlägerei zu schwadronieren – mit dem Kredithai Arno (Eric Bogosian), mit seinem Assistenten Demany (Lakeith Stanfield), mit seiner Noch-Ehefrau Dinah (Idina Menzel), mit den charaktervollen Laiendarstellern, welche die Safdies im Diamond District aufgegabelt haben –, bevor er mit mehr Glück als Verstand seinen Kopf doch noch aus der Schlinge ziehen kann. «Fuck you», «Give me my money» und «You’re fuckin‘ dead» sind der Soundtrack von Howards Leben.
«‹Uncut Gems› ist ein atmosphärischer Thriller, wie er im Buche steht – ein fieberhafter Hochseilakt ohne Netz, der einem immer wieder den Atem stocken lässt.»
«Uncut Gems» ist ein atmosphärischer Thriller, wie er im Buche steht – ein fieberhafter Hochseilakt ohne Netz, der einem immer wieder den Atem stocken lässt. Und, ganz in der Genre-Tradition von Sydney Pollack («Three Days of the Condor»), verbirgt sich unter der erzählerisch und handwerklich grossartig aufgezogenen Spannung auch einiges an gesellschaftspolitischer Relevanz: Howard, der trotz – oder gerade wegen – seinen grossmäuligen Schwindeleien eine faszinierend einnehmende Präsenz ist, ist gefangen in einem selbst gewählten kapitalistischen Hamsterrad, das ihm vorgaukelt, eines Tages zu Vermögen und Ruhe kommen zu können, während er sich auf den ewig gleichen Bahnen in den eigenen Ruin treibt. Es ist das Sahnehäubchen auf einem umwerfenden Meisterwerk.
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Filmfakten: «Uncut Gems» / Regie: Josh Safdie, Benny Safdie / Mit: Adam Sandler, Julia Fox, Idina Menzel, Lakeith Stanfield, Kevin Garnett, Eric Bogosian, Keith Williams Richards, Judd Hirsch / USA / 135 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix, A24
In halsbrecherischem Tempo und nervenaufreibender Intensität – und mit einem grossartigen Adam Sandler – erinnert «Uncut Gems» daran, wie packend Thriller wirklich sein können.
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[…] | Alan Mattli @ Maximum Cinema […]