Erwachsenwerden ist schwer. Fast jeder Coming-of-Age-Film dreht sich im Kern um diese wohl universelle Erfahrung. Die besten Vertreter des Genres schaffen es dennoch, stets neue Facetten herauszuarbeiten. Das preisgekrönte kanadische Drama «Une colonie» von Geneviève Dulude-De Celles gehört nicht dazu.
Von all den hoch dotierten Filmen über aufgewühlte Teenager im Oberstufenalter, welche die letzten paar Jahre hervorgebracht haben – von «Bande de filles» (2014) über «Lady Bird» (2017) bis «Booksmart» (2019) – erinnert «Une colonie» am meisten an den dem hiesigen Kinopublikum verwehrt gebliebenen «Eighth Grade» (2018). Wie Bo Burnhams scharfkantiges Porträt einer 13-Jährigen mit Angstzuständen konzentriert sich Genviève Dulude-De Celles in ihrem Spielfilmdebüt auf das Ende der Mittelstufe und den schwierigen Übertritt in die ominöse High School – also auf den Moment, der gerade in Nordamerika gleichbedeutend mit dem Ende der Kindheit ist.
Doch anders als Burnhams Meisterstück müssen sich Dulude-De Celles’ Protagonistinnen nicht in der endlosen New Yorker Vorstadtmonotonie zurechtfinden, sondern in der tiefsten Provinz von Québec. Hier wohnt die schweigsame Mylia (Émilie Bierre) zusammen mit ihrer kleinen Schwester Camille (Irlande Côté) und ihren Eltern (Noémie Godin-Vigneau, Robin Aubert) am Rande eines First-Nations-Reservates, über dessen Bewohner*innen – insbesondere Mylias Klassenkameraden Jimmy (Jacob Whiteduck-Lavoie) – die weissen Frankokanadier nur zu gerne tuscheln.
Vor diesem Hintergrund durchläuft Mylia die genreüblichen Übergangsriten: Sie hinterfragt die Autorität von Mutter und Vater, findet zweifelhafte Freundinnen, trinkt Alkohol und ringt mit den sexuellen Erwartungen, die an Mädchen in ihrem Alter gestellt werden. Zudem beginnt sie – dank Jimmy, dem sie und Camille immer wieder begegnen –, an der saloppen Einstellung ihres Umfeldes gegenüber der kolonisierten indigenen Bevölkerung zu zweifeln.
Letzteres mag wie ein untypischer Ansatz in einem Coming-of-Age-Film wirken, ist aber gerade in Kanada von dringender Relevanz – einem Land, in dem die Aufarbeitung historischer und aktueller Verbrechen an den First Nations erst jetzt im Begriff ist, den Mainstream zu erreichen. Morde an indigenen Frauen etwa gelten als nationale Pathologie.
«Somit bleiben sowohl Jimmy als auch der programmatische Titel letztlich leere Gesten in einem anderweitig allzu gewöhnlichen Drama.»
So willkommen dieses Eingeständnis aber auch sein mag, so wirkungslos bleibt seine Präsenz im Film. Anstatt sich mit den angedeuteten Problematiken auseinanderzusetzen, dienen diese vor allem dazu, Mylias Aussenseiterstatus zu zementieren: Nicht nur ist sie schüchtern und gut in der Schule – sie vergrämt ihre Altersgenossen auch mit ihrer vagen Empörung über deren rassistische Äusserungen, bevor sie sich damit brüstet, mit einem «Abenaki-Krieger» befreundet zu sein. Somit bleiben sowohl Jimmy als auch der programmatische Titel letztlich leere Gesten in einem anderweitig allzu gewöhnlichen Drama.
«Émilie Bierre überzeugt mit ihrer Interpretation von Mylias Kampf, Camille trotz ihrer Unsicherheit und ihrer pubertären Ausbrüche eine gute Schwester zu sein.»
Dass die wohlbekannten Stationen der Handlung aber dennoch überwiegend funktionieren, ist den beiden Jungschauspielerinnen im Zentrum von «Une colonie» geschuldet. Émilie Bierre überzeugt mit ihrer Interpretation von Mylias Kampf, Camille trotz ihrer Unsicherheit und ihrer pubertären Ausbrüche eine gute Schwester zu sein. Diese wiederum – selbst ein Opfer von Pausenhofschikane – wird von der herausragenden Irlande Côté mit einer faszinierenden Mischung aus kindlichem Überschwang à la Brooklynn Prince in «The Florida Project» (2017) und resignierter Traurigkeit verkörpert. Zusammen verleihen die beiden einem formelhaften Film einen lebendigen emotionalen Kern.
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Outside the Box und 19 Deutschschweizer Kinos stellen den Film für zehn Franken zum Streamen zur Verfügung. Infos gibt es hier.
VOD-Release: 21.5.2020
Filmfakten: «Une colonie» / Regie: Geneviève Dulude-De Celles / Mit: Émilie Bierre, Irlande Côté, Jacob Whiteduck-Lavoie, Noémie Godin-Vigneau, Robin Aubert / Kanada / 102 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Outside the Box
Zwei starke Jungschauspielerinnen bewahren «Une colonie» vor dem reinen Mittelmass. Ansonsten liefert das Coming-of-Age-Drama aber nichts, was man nicht schon gesehen hat.
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