Die Uhrenfabrik-Dörfer des Berner Jura wurden einst als Nabel der internationalen anarchistischen Bewegung bezeichnet. «Unrueh», das neue Drama von Cyril Schäublin («Dene wos guet geit»), geht dieser Geschichte auf spielerische, ästhetisch eindrückliche Weise nach.
Nationalstaat, Industrie, Arbeiterklasse: Ersterer erlässt Gesetze und investiert in die staatliche Infrastruktur, Zweitere produziert Güter und befeuert die Wirtschaft, Drittere nimmt am liberaldemokratischen Prozess teil und hält die Fabrikmaschinen am Laufen. Alle drei verfolgen sie unterschiedliche, einander nicht selten zuwiderlaufende Ziele: Ökonomische und soziale Ordnung konkurriert mit industrieller Gewinnmaximierung, industrielle Gewinnmaximierung mit dem Wunsch nach fairen Löhnen und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen. Es ist, ganz grob umrissen, die geltende wirtschaftlich-politische Dynamik im Europa des 19. Jahrhunderts.
Doch dann wurden die ersten Alternativen zu dieser Ordnung formuliert: 1848 veröffentlichten Karl Marx und Friedrich Engels ihr «Kommunistisches Manifest» gegen die kapitalistische Art der industriellen Produktion. In den 1860er Jahren begründete Mikhail Bakunin den kollektivistischen Anarchismus, der die Abschaffung des Staates und die Loslösung der Produktionsmittel aus privater Hand propagierte. Das Resultat: ein Schulterschluss von Staat und Industrie, die Kriminalisierung subversiver Elemente, die gemeinsam orchestrierte Ausbootung der Arbeiterklasse, die Etablierung des modernen Kapitalismus als gesellschaftliches Dogma.
«Es ist die Geschichte dieses Schulterschlusses, dieser Kollusion bürgerlicher und industrieller Elite, die der Zürcher Regisseur und Autor Cyril Schäublin in seinem neuen Film, dem an der Berlinale ausgezeichneten ‹Unrueh›, am Beispiel eines jurassischen Uhrenfabrik-Dorfs skizziert.»
Es ist die Geschichte dieses Schulterschlusses, dieser Kollusion bürgerlicher und industrieller Elite, die der Zürcher Regisseur und Autor Cyril Schäublin in seinem neuen Film, dem an der Berlinale ausgezeichneten «Unrueh», am Beispiel eines jurassischen Uhrenfabrik-Dorfs skizziert – dies jedoch ohne die Bemühung konventioneller Figurenzeichnung und klassischer Erzählmuster.
Ausgehend von einem Zitat des russischen Denkers und Aktivisten Pyotr Kropotkin (1842–1921), demgemäss seine Erfahrungen unter den Uhrmachern und Uhrmacherinnen im Schweizer Jura seine Abwendung vom Sozialismus und seine Hinwendung zum Anarchismus besiegelten, versetzt Schäublin sein Publikum ins Vallon de Saint-Imier, das um 1877 am Anfang einer neuen Zeitrechnung steht – im übertragenen Sinne, aber durchaus auch buchstäblich.
«Zeit, so die unmissverständliche Implikation, ist letztlich eben auch nur ein menschengemachtes Konstrukt, das von Staat und Wirtschaft nach Belieben manipuliert werden kann.»
Denn die Schweizer Uhrenindustrie ist noch jung in «Unrueh», ebenso die Schweiz als zusammenhängendes politisches Gebilde: Auf dem Fabrikgelände wimmelt es nur so von Fotografen, die zusammen mit der Fabrikleitung an den vorteilhaftesten Kamerawinkeln für den neuesten Werbekatalog feilen. An ihnen vorbei drängen sich unzählige Arbeiter*innen, die von ihren Vorgesetzten immer wieder Taschenuhren in die Hand gedrückt bekommen, mit denen sie den schnellstmöglichen Weg zwischen den verschiedenen Montagehallen abmessen sollen, um so die Werksprozesse zu optimieren.
Ja, selbst einheitliche, zentralistisch verwaltete Uhrzeiten haben sich noch nicht durchgesetzt: Der junge Pyotr Kropotkin (Alexei Evstratov), der mit dem Ziel angereist ist, eine «anarchistische Karte» des Tals anzufertigen, staunt jedenfalls nicht schlecht, als ihm im Telegrafenamt mitgeteilt wird, dass hier gleich mehrere Zeitzonen gelten, und dass die Uhren der Fabrik gegenüber der behördlichen Zeitmessung ganze acht Minuten vorgehen. Zeit, so die unmissverständliche Implikation, ist letztlich eben auch nur ein menschengemachtes Konstrukt, das von Staat und Wirtschaft nach Belieben manipuliert werden kann, je nachdem, was der jeweiligen Instanz gerade am meisten nützt.
Kein Wunder, florieren in diesem Ort, an dem die Moderne noch nicht in Form von durchdringender Vereinheitlichung Einzug gehalten hat, die internationale anarchistische Bewegung und ihre Bestrebungen, die Staatsgewalt und den industriellen Kapitalismus ihrerseits als menschengemachte und somit überwindbare Konstrukte zu enttarnen. Arbeiter*innen wie Josephine Gräbli (Clara Gostynski) zahlen in die anarchistische Krankenkasse ein, spenden Prozentsätze des Tageslohns an Arbeiterbewegungen im Ausland, stellen Gegenveranstaltungen zu eidgenössisch-patriotischen Feiern auf die Beine.
Doch so wie Kropotkin den Berner Jura zum Zentrum des zeitgenössischen Anarchismus ernannte, so verwandelt Schäublin ihn zum Musterbeispiel dafür, wie im Kampf um das politische System seit jeher nicht mit gleich langen Spiessen gefochten wird. Eine besonders eindringliche Gegenüberstellung zeigt die Organisation einer anarchistischen und einer bürgerlichen Lotterie: Die Anarchist*innen sammeln Geld für streikende Bahnarbeiter*innen in den USA; zu gewinnen gibt es Gutscheine für Porträtfotografien. Die ansässige Elite veranstaltet anlässlich des 400. Jahrestags der Schlacht von Murten eine Schlachtnachstellung mit dazugehöriger Tombola – der Preis: ein Satz Karabiner. Klassensolidarität und freizeitliche Zerstreuung auf der einen Seite, die Bewirtschaftung nationalistischer Mythen und die vorsorgliche Bewaffnung des Bürgertums auf der anderen.
«Klassensolidarität und freizeitliche Zerstreuung auf der einen Seite, die Bewirtschaftung nationalistischer Mythen und die vorsorgliche Bewaffnung des Bürgertums auf der anderen.»
Sowohl die titelgebende Metapher des Films – die der Unruh, die für das Funktionieren einer Uhr unabdingbar ist – als auch das dank grossartigen Sounddesigns allgegenwärtige Ticken der kleinen Chronometer machen deutlich, dass Kropotkins Traum einer anarchistischen Ordnung zumindest in diesem Setting dem Untergang geweiht ist. Die Schweiz wird sich schon bald an die umliegenden Länder anpassen und den Anarchismus verbieten; im Lauf der Historie wird sich der zentralistische Bolschewismus gegen den staatenlosen Kommunismus durchsetzen; und vielleicht ist der Kapitalismus, wie das Uhrwerk, so konzipiert, dass er ein Mindestmass an «Unruh» nicht nur aushält, sondern sogar voraussetzt.
Doch obwohl Schäublin hier von der ultimativen Niederlage einer internationalen Arbeiterbewegung erzählt, widersetzt sich seine Inszenierung dieser facettenreichen Geschichte jeglicher grimmigen Didaktik. Zugegeben, die bittere Pointe – die Bildung der staatlich-industriellen Front gegen den Anarchismus – fällt, trotz einer genüsslich schmierigen Darbietung von Locarno-Film-Festival-Urgestein Stefano Knuchel in der Rolle des italienischen Botschafters, etwas plump aus. Ansonsten jedoch besticht «Unrueh» mit einer anregenden Mischung aus erzählerischer Verspieltheit, feinem Witz und formaler Präzision.
Wie schon in seinem Erstlingswerk, dem latent dystopischen Zürich-Ensemblestück «Dene wos guet geit» (2017), zeichnet sich Schäublins künstlerisches Konzept auch hier durch das zielgerichtete Unterlaufen gewisser Sehgewohnheiten aus: Er verzichtet auf klassische Protagonist*innen und legt die Handlung in die Hände emotional und visuell auf Distanz gehaltener Figurengruppen. Der Plot folgt nicht einer explizit kommunizierten Dramaturgie, sondern wird von der Aneinanderreihung sich mal spiegelnder, mal widersprechender, mal ergänzender Alltagsszenarien suggeriert.
«Schäublins ohnehin schon exemplarische Figuren werden nachdrücklich in einen Zusammenhang mit dem sie umgebenden Milieu gestellt – das Sein bestimmt das (Klassen-)Bewusstsein.»
Dialoge finden indes unweigerlich entweder in der Totale oder in der Detailaufnahme statt, sodass es zu Beginn einer Szene oft schwierig ist, auf Anhieb festzustellen, wer überhaupt spricht – auch weil der Blickwinkel von Silvan Hillmanns Kamera gerne über die Köpfe der Akteure hinwegzielt und diese damit im untersten Bildviertel einpfercht. Die Folge davon: Schäublins ohnehin schon exemplarische Figuren werden nachdrücklich in einen Zusammenhang mit dem sie umgebenden Milieu gestellt – das Sein bestimmt das (Klassen-)Bewusstsein.
Dienten diese Kniffe in «Dene wos guet geit» noch dem Hervorheben der städtischen Entmenschlichung, wirken sie hier wie eine thematisch konsequente Ode an den Anarchismus. «Ich bin kein Protagonist», lässt Schäublin seinen Kropotkin einmal sagen, und die Äusserung ist Programm: Kropotkin ist, obwohl er dem Film sein Geleitzitat liefert, weit davon entfernt, Dreh- und Angelpunkt von «Unrueh» zu sein. Anders als in den nationalistischen Legenden von kriegführenden, staatsgründenden Individuen ist im anarchistischen Narrativ das Kollektiv die treibende Kraft – ein Unterschied, dem «Unrueh» auf hochgradig effektive Art und Weise auf der formalen Ebene Rechnung trägt.
«Etwas Relevanteres und stilistisch Eindrucksvolleres hat das politisch gesinnte Schweizer Kino im Moment nicht zu bieten.»
Was Kropotkin jedoch zufällt, ist die Rolle des stillen Beobachters: Wie auch das Kinopublikum wird er erstaunt Zeuge, wie ausgerechnet im abgelegenen Berner Jura die Samen einer kommunistisch-libertären Ordnung gesät werden – und wie dieser Versuch, eine gerechtere Welt zu schaffen, im Keim erstickt wird.
Wo «Dene wos guet geit» also eine eisige Vision der kapitalistischen Schweizer Gegenwart präsentierte, träumt «Unrueh» von einer sonnendurchfluteten, kollektivistischeren Vergangenheit, deren Hoffnungen Schäublin nicht als naive Utopie, sondern als ernst gemeinte Alternative verstanden wissen will. Etwas Relevanteres und stilistisch Eindrucksvolleres hat das politisch gesinnte Schweizer Kino im Moment nicht zu bieten.
Über «Unrueh» wird auch in Folge 51 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 17.11.2022
Filmfakten: «Unrueh» / Regie: Cyril Schäublin / Mit: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor, Valentin Merz, Laurence Bretignier, Laurent Ferrero, Mayo Irion / Schweiz / 93 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Seeland Filmproduktion, Filmcoopi Zürich AG
Cyril Schäublin beweist sich einmal mehr als einer der spannendsten Schweizer Regisseure der Gegenwart: «Unrueh» ist anregendes, stilistisch herausragendes politisches Kino.
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