Der Schweizer Film hat international gesehen nicht den besten Stand. Selten schafft es ein Film über die Landesgrenzen hinaus und wenige Werke werden an internationalen Festivals aufgenommen. Es gibt aber Ausnahmen und durchaus sehr viele starke Schweizer Filme, die es sich lohnt anzusehen!
Zum 1. August haben die Maximum Cinema Redakteurinnen und Redakteure ihre 15 Schweizer Lieblingsfilme gewählt:
1. «Chrieg» von Simon Jaquemet
Der schwer erziehbare Matteo wird in ein Erziehungscamp auf einer abgelegenen Alp gesteckt – ein fataler Fehler. Denn im Camp haben längst die eingewiesenen Jugendlichen das Sagen. In nächtlichen Gewaltexzessen ziehen sie durch das Unterland und rächen sich so am System und dem Versuch, sie gesellschaftskonform zu machen. Simon Jaquemets Spielfilmdebüt «Chrieg» steht stellvertretend für eine neue Generation von Schweizer Filmemachern. Das kontroverse Jugenddrama überzeugt durch ein authentisches Spiel und eine gewaltige Bildsprache, die man im Schweizer Film bisher selten gesehen hat. // Lieblings CH-Film von Joel Singh
2. «Sieben Mulden und eine Leiche» von Thomas Hämmerli
Als die Mutter des Schweizer Journalisten und Filmemachers Thomas Hämmerli verstarb, machte dieser sich mit seinem Bruder Erik daran, die Wohnung der Verstorbenen aufzuräumen. Kein simples Unterfangen, denn Hämmerlis Mutter litt an was man im Volksmund unter dem Messie-Syndrom kennt. Die Aufräumaktion dauerte schliesslich einen ganzen Monat und wurde zu einer Art archäologischen Ausgrabung der Familiengeschichte. Daraus entstand der Dokumentarfilm «Sieben Mulden und eine Leiche», zugleich hoch persönliche Exploration, intimes Familienporträt und vor allem berührende Hommage an eine komplizierte, faszinierende und leider auch kranke Frau: Hämmerlis Mutter Bruna. // Lieblings CH-Film von Sabine von Rütte
3. «Home» von Ursula Meier
Mit ihrem Langspielfilmdebüt «Home» gelang der Schweiz-Französin Ursula Meier 2008 das scheinbar Unmögliche: ein in der Schweiz produziertes Drama ohne Klischees und falsche Romantik. Das Anti-Roadmovie um eine Familie, die vom Lärm der an ihrem Haus vorbeiführenden Autobahn an den Rande des Wahnsinns getrieben wird, ist mal absurdes Theater, mal kritisches Weltkino auf den Spuren von Jia Zhangke. «Home» ist ein Film über den Kampf gegen den Stillstand – und gerade deshalb packend wie kaum eine andere Schweizer Produktion des 21. Jahrhunderts. // Lieblings CH-Film von Alan Mattli
4. «Höhenfeuer» von Fredi M. Murer
Fredi M. Murer hat mit «Höhenfeuer» eine Art helvetischen «The Revenant» geschaffen. Er kommt zwar nicht an die kameratechnische Brillanz von Emmanuel Lubezki heran, aber der Film konzentriert sich wie Iñárritu’s Film auf die archaische Kraft der Bilder. Und – das macht «Höhenfeuer» in einem Punkt noch wahrhaftiger als «The Revenant» – überzeugt mit erschreckend authentischen, und ohne Sprache auskommenden Schweizer Bergler-Cast, der die griechische Inzest-Tragödie zu einem Meisterwerk werden lässt, und ganz nebenbei – unterstützt durch seine dokumentarische Form – über das Menschsein nachdenken lässt. // Lieblings CH-Film von Simon A. Keller
5.«Blue My Mind»
Die Zürcherin Lisa Brühlmann lieferte 2017 mit «Blue My Mind» ein wildes Debüt ab, das die Pubertät mit geschickten metaphorischen Kniffen zum Horrorszenario hochstilisiert und dadurch die komplexe Thematik überhaupt erst greifbar macht. Eine regelrechte Tour de Force, die vom nuancierten Spiel der jungen Luna Wedler lebt, die, wie auch die Regisseurin, eine grosse Hoffnung für den Schweizer Film darstellt. // Lieblingsfilm von Owley Samter / Zur ausführlichen Filmkritik
6. «More than Honey» von Markus Imhoof
Für mich ist Markus Imhoof die Königin! Die Königin des Schweizer Films! In «More than Honey» zeigt er bildgewaltig und mit nötiger Distanz eine faszinierende Dokumentation über das fleissigste Tier aller Tiere: Die Biene. Thematisch reist er der Frage nach, warum immer mehr Bienenvölker aussterben. Im gleichen Atemzug klatscht er die Bedeutung dieses Lebewesens für unser Ökosystem auf die Leinwand – eindrücklich, erdrückend, brillant! // Lieblings CH-Film von Yves Hofmeister
7. «Amateur Teens» von Niklas Hibler
Gefühlschaos, Sex und stetig steigender Gruppendruck. «Amateur Teens» von Niklas Hibler behandelt alle typischen Merkmale einer Coming-of-Age Story. Auf eine ungekünstelte und stark figurenbezogene Erzählweise, vermittelt der Film die Verwirrungen und Auseinandersetzungen der Teenies im heutigen digitalen Zeitalter, das die eh schon aufwühlende Pubertät zu einer noch grösseren Herausforderung macht. Während dem Schweizer Film oft hölzerne und gestellte Dialoge nachgesagt wird, gelang Hibler mit «Amateur Teens» ein authentisches Werk mit extrem talentierten Jungdarstellern. Ein erschütternder und zugleich berührender Film. // Lieblings CH-Film von Aline Schlunegger
8. «Cherry Pie» von Lorenz Merz
An einem verregneten Montagnachmittag vor nun auch schon einiger Zeit habe ich diese im Verborgenen glänzende Schweizer Filmperle entdeckt und war sofort hin und weg. Lorenz Merz erzählt in seinem ersten Spielfilm «Cherry Pie» die traumwandlerische Geschichte von der geheimnisvollen Zoé (Lolita Chammah, die Tochter von Isabelle Huppert), die gelangweilt aus ihrem alten Leben verschwindet, mit der Fähre über den Ärmelkanal tuckert, dort ein leeres Haus bezieht und mit viel Klasse Unmengen an Cherry Pie verdrückt. Mehr passiert auch gar nicht, doch solch mysteriös-träumerischen Roadmovie-Flair versprüht kein anderer Schweizer Film. Deswegen: Unbedingt anschauen! // Lieblings CH-Film von Lorena Funk
9. «Der Goalie bin ig» von Sabine Boss
Nach dem gleichnamigen Roman von Pedro Lenz erzählt der Film «Der Goalie bin ig» (2014) die Geschichte des Lebenskünstlers Ernst (Marcus Signer), der von allen nur „Goalie“ genannt wird. Nach einem Jahr im Gefängnis kehrt er zurück nach Schummertal, einem Provinzort von Bern, wo er aufgewachsen ist. Hier will er neu anfangen, doch seine Vergangenheit holt in genau dort ein, wo er es am wenigsten erwartet. Der preisgekrönte Film von Sabine Boss ist traurig, naiv, stark und schön zugleich. Er brilliert durch seine wortgewaltigen Dialoge und wird durch den Titelsong von Züri West „Goalie“ abgerundet. Ein Juwel unter den Schweizer Filmen – „cheibe guet!“. // Lieblings CH-Film von Dafina Abazi
10. «Das Boot ist voll» von Markus Imhoof
Selten hat mich ein Filmende so mitgenommen wie das von «Das Boot ist voll». Die hiesige Neutralität hat ihren Preis, das wird hier berührend und realitätsnah in Szene gesetzt und die Botschaft des Films von Markus Imhoof ist heute genauso aktuell wie 1981. Ein zeitloser Film, der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in die vermeintlich unbetroffene Schweiz verlegt. // Lieblings CH-Film von Aurel Graf
11. «Die Göttliche Ordnung» von Petra Volpe
Eine Komödie über die späte Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts? Ob das wohl gut gehen kann? Kann es! Und zwar weil Petra Volpe ihren Film «Die göttliche Ordnung» zu einer Komödie gemacht hat, die diesen Namen verdient: Kein Sich-Lustigmachen über unsere achso-rückständigen Vorväter und -mütter, vielmehr realisiert man immer wieder, wie man auch über sich und seine (Vor-)urteile lacht. Das zu behandelnde Thema wird dabei ernst genommen, die Charaktere sind alles andere als platt (besonders toll: Marie Leuenberger in der Hauptrolle) und die Zuteilung in Schubladen nicht so eindeutig möglich, wie man vielleicht denken könnte: Dass Männer mehr Rechte haben als Frauen, so zeigt der Film eindrücklich, davon profitieren auch Frauen und darunter leiden auch Männer. Der Film legt an einer kleinen Gemeinde dar, wie vielschichtig und kompliziert die Emanzipation war, wie sehr Politik und Privatleben verwoben sind und hinterfragt so ganz nebenbei, wie demokratisch die „direktdemokratische“ Schweiz heute tatsächlich ist. // Lieblings CH-Film von Karla Koller
12. «Reise der Hoffnung» von Xavier Koller
Xavier Koller gewann mit diesem Roadmovie nicht nur den bisher einzigen Schweizer Oscar, sondern auch viele Herzen. Die Geschichte einer türkischen Familie und ihrer beschwerlichen Flucht in die Schweiz berührt, weil sie nicht moralisiert, sondern ein inzwischen leider wieder aktuelles Thema aus der Sicht derjenigen zeigt, die es am schwersten haben: den Flüchtlingen. // Lieblings CH-Film von Simon Kümin
13. «Der Verdingbub» von Markus Imboden
«Der Verdingbub» beleuchtet ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte. Einer der eindrücklichsten Filme der letzten Jahre. Mit grossartigen Schauspielern wie Stefan Kurt als trunksüchtigen Emmentaler Bauern oder Katja Riemann mit wunderbarem Berndeutsch als seine jähzornige Frau. Ästhetisch – ruhig und kraftvoll zeigt der Film eindrücklich das aussichtslose Leben eines Verdingbubs. // Lieblings CH-Film von Steve Nyfenegger
14. «Schellen-Ursli» von Xavier Koller
«Schellen-Ursli» von Xavier Koller ist ein echter Schweizer Film mit wunderbaren Bildern, traditionellem Brauchtum und glaubhaften Gefühlen. Der Film vermittelt Werte, ohne den Zeigefinger zu erheben. Er ist lustig und traurig zu gleich. In jedem Fall ein spannendes Abenteuer für die ganze Familie! // Lieblings CH-Film von Olaf Kah
15. «Above and Below» von Nicolas Steiner
Nicht von dieser Welt, so scheinen Rick und Cindy, Dave und April. Sie leben in Las Vegas, im Niemandsland von Kalifornien, in der Wüste von Utah. Ihr Leben spielt sich am Rande der Gesellschaft ab: In Abwässerkanäle, auf dem Mars und im Universum. Der Schweizer Dokumentarfilmer Nicolas Steiner schafft es wie kein anderer den Zuschauer in deren besonderen Welten hineinzuziehen. Das tut er mit atmosphärischen Bildern und einem intimen Blick in den ungewöhnlichen Alltag der Personen. Ein bildgewaltiger Sog, der nicht von dieser Welt scheint. // Lieblings CH-Film von Claudia Müller
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