Victoria ist neu nach Berlin gezogen. In wenigen Stunden müsste die junge Spanierin das Café, in dem sie als schlecht bezahlte Kellnerin arbeitet, öffnen. Zwischen Clubbesuch und Café-Aufschliessen schiebt sich allerdings eine schicksalshafte Zufallsbekanntschaft. Regisseur Sebastian Schipper schafft mit «Victoria» eine fulminante Inszenierung, die mit nur zwölf Seiten Drehbuch, einer Kamera und ganz ohne Schnitt auskommt.
Wir sitzen an dem Abend zu viert im Wohnzimmer in Altstetten. Eingebettet in zahlreiche Kissen und Decken, sehen wir dabei zu, wie der Beamer das Netflix-Logo an die gegenüberliegende Wand projiziert. Unser WG-Home-Cinema ist wohl das, was in der gegenwärtigen Situation dem richtigen Kino am nächsten kommt. Wir zählen uns zu den Glücklicheren. Dann beginnt der Film: Strobolicht zu Techno, auf der Tanzfläche eine junge Frau. Sie lächelt. Der Schweiss läuft ihr herunter. Auf dem Sofa erklingt unisono ein tiefer Seufzer – wie gerne wären wir auch gerade dort!
Doch die von Laia Costa gespielte Titelheldin von «Victoria» verlässt irgendwann den Club. Draussen wird sie von Sonne (Frederick Lau) und seinen Freunden angequatscht. Victoria ist ihm schon vorher aufgefallen. Er überredet sie zu einem Bier von «seinem» Späti, das sie alle zusammen auf «seiner» Dachterrasse trinken. Schnell wird klar, dass Victoria alles andere als ein verzagtes Mädchen ist. Sie fühlt sich sichtbar wohl in diesem kleinen Rudel, welches ihr das echte Berlin zeigt. Ohne Berührungsängste fügt sie sich in die neue Gruppe der etwas verloren scheinenden Jungs ein.
Zweieinhalb Stunden Mitfiebern in Echtzeit
Der Film machte von sich reden, als er 2015 an der Berlinale seine Weltpremiere feierte, auch weil er als monumentale Plansequenz gedreht wurde. Filmemacher Sebastian Schipper («Absolute Giganten», «Roads»), entschied sich, vier Monate lang mit Darstellern und Crew zu proben, um dann den Film ganz ohne Schnitt zu inszenieren. Die dritte Take – das sind zwei Stunden und 18 Minuten in Echtzeit – wurde dann die finale Version.
So ist es sicherlich auch das Verdienst von Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, dass man durch die Dynamik auf der Leinwand regelrecht ins Geschehen hineingesogen wird. Alles geht ziemlich schnell, und man bemerkt weder fehlende Schnitte noch gelegentliche Unschärfen, so virtuos ist das Ganze choreografiert. Die Darsteller der Kerngruppe – allen voran ein vielschichtiger Franz Rogowski in seiner Rolle als Ex-Knasti – verleihen mit ihren improvisierten Dialogen und dem Zusammenspiel der Inszenierung zusätzlich Charisma.
«Die Geschichte startet vielversprechend, verliert nie an Tempo und kulminiert in einem regelrechten Höllenritt. Es ist das gelungene Zusammenspiel von Crew und Darstellern, das den Spannungsbogen bis zum Zerreissen treibt.»
Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Heist-Thriller anmutet, ist im Kern eine Liebesgeschichte. Da verzeiht man Nils Frahm auch den ab und zu an Kitsch grenzenden Soundtrack. Die Geschichte startet vielversprechend, verliert nie an Tempo und kulminiert in einem regelrechten Höllenritt. Es ist das gelungene Zusammenspiel von Crew und Darstellern, das den Spannungsbogen bis zum Zerreissen treibt.
«‹Victoria› ist eine Ode an die Spontaneität, an Zufallsbekanntschaften in lauen Sommernächten.»
«Victoria» ist eine Ode an die Spontaneität, an Zufallsbekanntschaften in lauen Sommernächten. Als an jenem Abend im WG-Kino der Abspann zu laufen beginnt, sind wir alle aber auch ein klein wenig froh, konnten wir dieses eine Mal auf dem Sofa sitzen bleiben.
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Auf Netflix Schweiz
Filmfakten: «Victoria» / Regie: Sebastian Schipper / Mit: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff, André Hennicke / Deutschland / 138 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
Sebastian Schipper gelingt eine empathische, spannungsgeladene Jagd durch die Nacht, die zeigt, dass der Grat zwischen Lebenslust und Dummheit sehr schmal ist.
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