Im hohen Alter von 88 Jahren begab sich die Regielegende Agnès Varda zusammen mit dem Künstler JR auf grosse Fahrt durch Frankreich. Die Chronik dieser Tour de France heisst «Visages villages» und ist ein berührender Roadmovie-Dokumentarfilm über die Kunst, das Älterwerden und die Spuren, die wir hinterlassen.
Es ist ein seltsames Paar, das hier im Kleinlaster mit eingebautem Transparentdrucker das ländliche Frankreich unsicher macht: Sie ist Agnès Varda, Jahrgang 1928, die ‹Last Woman Standing› der französischen Nouvelle Vague, jener Bewegung, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren das Kino neu erfand und zu deren Schlüsselwerken ihr Drama «Cléo de 5 à 7» (1962) gehört. Er ist JR, bürgerlicher Name unbekannt, geboren 1983, Fotograf und Street-Art-Künstler – bekannt für seine überlebensgrossen Fotodrucke, mit denen er jede erdenkliche vertikale Fläche verziert.
Doch Varda ist bekanntermassen selber Foto- und gelegentlich sogar Aktionskünstlerin und befindet sich somit auf der gleichen Wellenlänge wie ihr 55 Jahre jüngerer Kollege. So ziehen sie gemeinsam von Ort zu Ort und lernen dort die Einheimischen kennen. JR fotografiert sie und bepflastert die Fassaden mit ihren Gesichtern – kurzlebige, öffentliche Kunst aus dünnem Fotopapier –, während Varda ihn bei der Arbeit ablichtet. Zwischen ihren Besuchen erzählen sich die beiden Geschichten, stellen sich Fragen und philosophieren humorvoll und klarsichtig über ihr Leben.
«Visages villages», mehr Collage oder Fotoalbum als lineare dokumentarische Erzählung, schlägt ein gemütliches Tempo an. Man ist dazu angehalten, sich Zeit zu nehmen für die persönlichen Schicksale, die hinter JRs Kunstwerken stehen. Hier berichtet die letzte Bewohnerin einer verfallenden Häuserzeile im postindustriellen Norden davon, wie die Bergbaujobs aus ihrer Region verschwunden sind. Dort bringen Varda und JR für ein Gruppenfoto Arbeiter und Arbeiterinnen derselben Fabrik zusammen, die sich aufgrund verschiedener Abteilungen und Schichtzeiten noch kaum je gesehen haben.
Und auch Varda selbst erzählt auf bescheidene, zurückhaltende Weise davon, was sie an diesem Punkt in ihrem Leben umtreibt: Sie ist geprägt von Erinnerungen an ihren verstorbenen Ehemann – den Regisseur Jacques Demy, dem sie 1991 den Film «Jacquot de Nantes» widmete – und ihren geliebten, ebenfalls verstorbenen Kollegen Guy Bourdain. Ihre Freundschaft mit Jean-Luc Godard, der im letzten Teil des Films eine tragende Rolle spielt, leidet unter dessen Einsiedlertum. Das Augenlicht der begnadeten visuellen Künstlerin nimmt stetig ab.
Trotzdem ist «Visages villages» ein optimistischer Film, der an die Kraft der Kunst glaubt. Varda und JR münzen ihre Trauer und ihre Sorgen in wunderschöne, poetische Werke um – genau so, wie sie die Geschichten ihrer Sujets in riesige vorübergehende Denkmäler an alltägliche Freuden verwandeln. Es ist Varda in Reinform: subtil, spielerisch und menschlich.
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Kinostart Deutschschweiz: 31.5.2018
Filmfakten: «Visages villages» / Regie: Agnès Varda, JR / Mit: Agnès Varda, JR / Frankreich / 89 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
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