Als eines der ersten grossen Festivals der Schweiz, das seit dem Shutdown im März wieder stattfinden kann, sieht sich das Fantoche in diesem Jahr mit zwei grossen Fragen konfrontiert: Wie gestaltet man ein Filmfestival während einer Pandemie? Und: Was zeigt man überhaupt in einem Jahr, in dem viele Trickfilme nicht fertiggestellt werden konnten oder verschoben werden mussten? Das grösste Schweizer Trickfilmfestival hat für sein 25-jähriges Jubiläum vom 1. bis 6. September auf beide Fragen eine Antwort gefunden und präsentiert ein kunterbuntes und spannendes Programm.
Neben den gängigen Sicherheits- und Hygieneregeln gibt es am Fantoche auch längere Einlasszeiten, um Staus zu vermeiden, sowie lange Pausen zwischen den einzelnen Vorstellungen. Während sich die Pandemie kaum auf die Zahl der Vorstellungen niederschlägt, wird sie bei der Filmwahl deutlich spürbar. Dieses Jahr gibt es nur wenige neue Langfilme zu sehen, weshalb das Fantoche kreative Lösungen finden musste.
Vorhang auf für die «After Lockdown Pleasures», eine Sammlung von Lieblingsfilmen der Animations-Community, die das Langfilmprogramm ergänzen. Wer also schon immer mal die süsse Kinderbuchverfilmung «Ernest et Célestine» (2012), den herrlich verspielten «Les Triplettes de Belleville» (2003) oder den Schweizer Oscar-Kandidaten «Ma vie de Courgette» (2016) auf der grossen Leinwand sehen möchte, hat dieses Jahr am Fantoche die Gelegenheit dazu.

«Calamity, une enfance de Martha Jane Cannary» von Rémi Chayé
Bei all der Nostalgie dürfen aber auch die neueren Filme nicht vergessen gehen: allen voran «Calamity, une enfance de Martha Jane Cannary» von Rémi Chayé, der mit seinem flächig-stilisierten Stil die Geschichte der legendären Westernheldin «Calamity Jane» schildert. Der Film eröffnet nicht nur das Festival; Chayé wird (coronabedingt leider nur virtuell) auch am Fantoche dabei sein und in einer Masterclass Einblick in seine Arbeit am Film geben.
Wer nach «Calamity» noch nicht genug hat, der sei auch «Tout en haut du monde» ans Herz gelegt, mit dem Chayé bereits 2015 das Fantoche eroberte: Hier begibt sich eine junge russische Adlige entgegen den Wünschen ihrer Familie auf die Suche nach ihrem im Eismeer verschollenen Grossvater. Der Film wird dieses Jahr auch am Fantoche gezeigt.
Ebenfalls im Auge behalten sollte man dieses Jahr die Fantasy-Geschichte «Weathering with You» von Makoto Shinkai (der 2016 mit «Your Name» den erfolgreichsten Anime aller Zeiten drehte) und den schwedischen «Topp 3», der in kurzweiligen und farbenfrohen 45 Minuten das Wesen und Scheitern einer Liebesbeziehung ergründet.
Sinnliche Statistiken und hormongesteuerte Lachsmänner
Auch die Wettbewerbskategorien präsentieren sich in diesem Jahr unverändert stark: Im «Internationalen Wettbewerb» buhlen gleich 35 Filme um die Preise. Speziell freuen können wir uns auf «Something to Remember», den neuen Kurzfilm von Niki Lindroth von Bahr, die vor einigen Jahren mit ihrem herrlich absurden tierischen Puppentrickmusical «The Burden» (2017) bereits die Festivalszene aufgemischt hat. Auch Theodore Ushev, dessen Kurzfilm «Blind Vaysha» 2016 für den Oscar nominiert war, ist mit seinem eben erst mit dem Hauptpreis am Trickfilmfestival von Annecy ausgezeichneten philosophischen Selbstfindungstrip «Physique de la tristesse» am Start.

«Physique de la tristesse» von Theodore Ushev
Im Internationalen Wettbewerb finden sich auch zwei Schweizer Beiträge: In «Average Happiness» zeigt Maja Gehrig augenzwinkernd, wie sinnlich Statistik doch sein kann – der verspielte Film wurde diesen Frühling mit dem Schweizer Filmpreis für den Besten Animationsfilm ausgezeichnet. Derweil legt Joder von Rotz in seinem Kurzfilm-Trip «Little Miss Fate» das Schicksal in die Hände der falschen Person – mit gravierenden Folgen.
Beide Filme gehen auch im Schweizer Wettbewerb an den Start – durch ihre Doppelselektion natürlich aus einer Favoritenrolle. Dort müssen sie sich gleich gegen 17 Filme behaupten. Doch das dürfte alles andere als einfach sein, denn das Niveau im «Schweizer Wettbewerb» ist wie schon in den Vorjahren sehr hoch: Im unlängst am Locarno Film Festival ausgezeichneten «Lachsmänner» lassen Manuela Leuenberger, Veronica L. Montaño und Joel Hofmann ihre hormongesteuerten Titelhelden ein sinnliches Liebesspiel der Extraklasse erleben. Der Film besticht durch seinen charmanten Stil und viel Witz.
In Zeiten von Social Distancing und Selbstisolation passt es auch gut, dass sich der Schweizer Wettbewerb eindringlich mit einsamen Figuren und verlorenen Seelen auseinandersetzt. Der skizzenhaft-essayistische «Alleswasichberühre» von Marion Täschler befasst sich mit der Sehnsucht – und Angst – vor Berührung. Derweil zeigt uns Dustin Rees in «Signs» einen einsamen Elektriker, der nachts Leuchtschilder aufstellen muss, während um ihn herum das Leben vorbeizieht. Einsam geht es auch in «The Edge» zu und her: In diesem visuell beeindruckenden Kurzfilm von Géraldine Cammisar und Zaide Kutay erlebt ein Lastwagenfahrer den Kollaps des Raum-Zeit-Kontinuums aus nächster Nähe.
Géraldine Cammisar und Dustin Rees erzählen im Maximum Cinema Filmpodcast über die Arbeit an ihren Kurzfilmen.

«The Edge» von Géraldine Cammisar und Zaide Kutay
Das 18. Fantoche findet vom 1. bis 6. September 2020 in Baden statt. Das komplette Programm findet sich auf der Webseite des Festivals.
Titelbild: «Lachsmänner» von Manuela Leuenberger, Veronica L. Montaño und Joel Hofmann
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Themenbezogene Interessensbindung des Autoren: Olivier Samter moderiert am Fantoche und ist mit einigen der vorgestellten Filmschaffenden befreundet. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie auch zwangsläufig mit ihm befreundet sind.
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