Radikal, aber anders: Regie-Berserker Gaspar Noé bringt mit «Vortex» einen ungewöhnlich sanften, zugleich verzweifelten Film auf die Leinwand, der von den letzten Tagen eines älteren Paares erzählt. Der grösstenteils improvisierte Film besticht vor allem aufgrund der Protagonist*innen, verkörpert durch die Kino-Kultfiguren Françoise Lebrun und Dario Argento. Im Interview spricht der französisch-argentinische Regisseur über die Zusammenarbeit mit den beiden Leinwandlegenden, über die Dreharbeiten während der Pandemie sowie über seinen Schaffensprozess.
«Vortex» handelt von einem liebenden Paar, bei dem sich zunehmend Altersschwächen bemerkbar machen: Sie (Françoise Lebrun) erkrankt an Demenz, er (Dario Argento) leidet unter den Folgen eines Schlaganfalls. Obwohl die enge Wohnung mit ihren verschachtelten Fluren immer umständlicher für das ältere Paar wird, wollen die beiden ihr geliebtes Zuhause nicht verlassen und bestehen auf Autonomie. Ihr Sohn (Alex Lutz) tut sein Bestes, um seinen Eltern unter die Arme zu greifen, stösst damit jedoch an seine Grenzen.
Die Handlung spielt primär im engen Pariser Appartement des Paares. Dabei filmt Regisseur Gaspar Noé die beiden mit zwei Kameras, um die zwei Individuen getrennt voneinander zu begleiten – obschon sie unter einem Dach leben. Der daraus resultierende Split-Screen zeugt von Noés ungebrochenem Ausloten filmischer Möglichkeiten. Bisher vor allem bekannt als Provokateur, dank Filmen wie «Irréversible» (2002) und «Love» (2015), ist dem 58-Jährigen mit seinem neuesten Film ein einfühlsames, gleichermassen radikales Werk über die Liebe im Alter und das Lebensende gelungen.
Eine ausführliche Filmbesprechung gibt es hier.
Nora Kehli: Wie war es, mit Françoise Lebrun und Dario Argento zu arbeiten? Insbesondere im Hinblick darauf, dass Sie die Schauspielerin und den Regisseur schon lange bewundern.
Gaspar Noé: Es war ein grosses Glück für mich, die beiden – sowie Alex Lutz, der auch fabelhaft spielt – in meinem Film zu besetzen. Ich filme gerne Leute, die ich für ihr Charisma bewundere. Es stimmt, dass ich Filme mit Françoise gesehen habe, in denen mich ihre schauspielerische Leistung beeindruckte. Zwar kenne ich Darios Filme, aber der Grund, warum ich ihm die Rolle angeboten habe, war vor allem, weil ich ihn für extrem charismatisch halte und er ein langjähriger Freund ist. Ich kenne ihn seit 30 Jahren, seitdem ich ihn damals am Filmfestival in Toronto kennengelernt habe.
Als ich die Idee zum Film hatte, waren das die ersten beiden Personen, die mir in den Sinn kamen, um die Protagonist*innen zu verkörpern. Ich dachte, es wäre einfacher, Françoise davon zu überzeugen, aber sie stimmte weder zu noch lehnte sie ab, bis sie wusste, wer die männliche Hauptrolle übernehmen würde. Dario bereitete ursprünglich einen Film vor, also er war nicht verfügbar. Zwar suchte ich nach Alternativen, aber mir fiel niemand ein, der mir so gut erschien.
«Ich dachte, es wäre einfacher, Françoise davon zu überzeugen, aber sie stimmte weder zu noch lehnte sie ab, bis sie wusste, wer die männliche Hauptrolle übernehmen würde.»
Glücklicherweise hatten sich die Dreharbeiten zu seinem Film aufgrund des Coronavirus verzögert, sodass er an den Tagen, an denen ich drehen wollte, frei war. Ich besuchte ihn in Italien, um ihn von der Rolle zu überzeugen, und er sagte mir: «Ja, ich willige unserer Freundschaft zuliebe ein, und weil ich deine anderen Filme mag». Ich glaube, dass ihm das Thema der Demenz anfangs nicht so gut gefiel, aber er vertraute mir. Als ich ihm mitteilte, dass er improvisieren müsse, erwiderte er: «Das ist magisch, das hat mir Lust gegeben, die Rolle zu übernehmen». Ausserdem hätte er es auch nicht gemocht, Texte auswendig zu lernen.
Die beiden haben also auch eigene Ideen in ihre Rollen mit eingebracht?
Ja, in der Tat. Auch wenn Dario im Film nicht Dario heisst und eher ein Filmkritiker als ein Regisseur ist, ist es sein Charisma, das hindurchscheint. Was Françoise betrifft, musste sie eine Person verkörpern, die nicht mehr zurechnungsfähig ist, obschon sie selbst im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist. Sie ist sehr intellektuell und hat einen grossen Wortschatz. Ich habe ihr erklärt, sie solle hauptsächlich mit den Augen spielen und man solle kaum verstehen, was sie sagt. Sie arbeitete also eher an der Gestaltung. Er hingegen arbeitete eher daran, sein natürliches Charisma zu unterstreichen.
Wäre der Film denn auch ohne Françoise Lebrun und Dario Argento möglich gewesen?
Ich hätte den Film vielleicht mit anderen Schauspieler*innen gedreht, und er wäre viel schlechter geworden. Wenn du Filme machst, bei denen du so nah an den Gesichtern der Menschen bist, dann wirst du entweder von deren Anblick berührt oder nicht. Ich hatte tatsächlich grosses Glück, dass diese beiden guten Einfälle hinsichtlich der Besetzung auf die Leinwand gebracht werden konnten. Der Film mit der gleichen Geschichte, aber mit Leuten, die weniger Charisma besitzen oder weniger gut spielen, wäre vermutlich viel schlechter gewesen.

Dario Argento und Françoise Lebrun.
«Der Film mit der gleichen Geschichte, aber mit Leuten, die weniger Charisma besitzen oder weniger gut spielen, wäre vermutlich viel schlechter gewesen.»
Musik spielt oft eine grosse Rolle in Ihren Filmen. Wieso haben Sie sich bei «Vortex» dazu entschieden, Musik nur minimal einzusetzen?
Bei den meisten Stücken, die im Film vorkommen, handelt es sich um diegetische Musik. Es ist also Musik, die nicht als äusserer Kommentar fungiert, sondern sich innerhalb der Szene abspielt. Es gibt ein Stück, das unerwartet kommt: am Anfang des Films, als man Françoise Hardy singen hört. Im Prolog trinken die beiden Hauptfiguren Weisswein auf dem Balkon, und ich suchte nach Musik, die ich so einspielen könnte, als käme sie von den Nachbarn. Es sollte also diegetische Musik sein.
Als wir das Lied auf YouTube geladen hatten, stiessen wir auf zwei Versionen des Musikclips. Eines der Videos, das vom Archiv des RTS (Radio Télévision Suisse) stammte, zeigte die Grossaufnahme von Françoise Hardy. Das Bild war so schön, dass ich dem Cutter sagte, er solle den Clip ans Ende des Prologs setzen. Es war eine Idee, die aus dem Nichts entstand, aber sie funktionierte so gut, dass wir später mit RTS über die Rechte verhandelten, um auch das Bild verwenden zu dürfen. Das Musikvideo fungiert nahezu als Pause: Wir haben erst den Prolog, dann folgt eine Pause, dann beginnt das Drama, und das Lied fasst die Handlung des Films im Wesentlichen zusammen.
Wieso haben Sie sich dazu entschieden, das Verfahren des Split-Screens zu verwenden, um diese Geschichte zu erzählen? Inwiefern unterscheidet sich die Benutzung des Split-Screens in «Lux Æterna» und «Vortex»?
Als ich vor zwei Jahren «Lux Æterna» machte, wollte ich ursprünglich einen Kurzfilm bestehend aus Plansequenzen drehen, aus dem später aber ein 52-Minuten-Film wurde. Wir hatten nur fünf Tage Zeit, um den Film zu drehen. Ich war nicht zufrieden mit den Aufnahmen des ersten Drehtages, und so entschloss ich mich am darauffolgenden Tag dazu, dass ich anstelle von Plansequenzen mit mehreren Kameras drehen und einen Montagefilm machen würde. In der Postproduktion liessen wir schliesslich die Montage im Split-Screen oder Triple-Screen erfolgen. Der Film zeugt von einer sehr spielerischen Herangehensweise.
Danach wurde mir vorgeschlagen, einen kurzen Modefilm [«Summer of ’21»] zu drehen, und da ich bereits mit Split-Screens gearbeitet hatte, habe ich dieses Verfahren hier nochmals angewendet. Dabei handelte es sich lediglich um einen filmischen Gimmick, der das Filmbild bereicherte.
Nach diesen beiden Filmen dachte ich mir, dass es interessant sein könnte, einen Film zu machen, in dem man die Figuren getrennt voneinander begleitet, auch wenn sie unter demselben Dach leben. Am ersten Drehtag von «Vortex» filmten wir einige Sequenzen mit einer Kamera, andere mit zwei Kameras. Am folgenden Morgen stellte ich fest, dass die Sequenzen mit zwei Kameras, wenn man sie nebeneinanderstellte, interessanter waren als die, die wir bloss mit einer Kamera gedreht hatten. Also filmten wir die erste Sequenz noch einmal, um sie mit zwei Kameras aufnehmen zu können. Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass ich den gesamten Film mit zwei Kameras drehen würde. Die daraus resultierende Bildteilung soll zwei einsame Menschen repräsentieren, die nicht mehr miteinander kommunizieren können. Es ist ein Konzept, das grafisch schwerfällig sein könnte, aber ganz im Gegenteil: Man lässt sich schnell auf das Prinzip des Split-Screens ein.
«Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass ich den gesamten Film mit zwei Kameras drehen würde. Die daraus resultierende Bildteilung soll zwei einsame Menschen repräsentieren, die nicht mehr miteinander kommunizieren können. Es ist ein Konzept, das grafisch schwerfällig sein könnte, aber ganz im Gegenteil: Man lässt sich schnell auf das Prinzip des Split-Screens ein.»

Splitscreen, aus dem Film «Vortex».
Mit zwei Kameras in diesen engen Räumlichkeiten zu drehen, war sicherlich keine einfache Angelegenheit.
Bei statischen Einstellungen, bei denen die Kameras etwa um einen Tisch platziert wurden, war es ganz einfach. Sobald sich die Kameras aber bewegten, traten manchmal Umstände auf, bei denen zwangsläufig eine Kamera die andere filmte. Zum Teil konnten wir die zweite Kamera in der Postproduktion wegretuschieren, allerdings funktionierte das nicht immer. Daher mussten wir kleine Zwischensequenzen drehen, um die zweite Kamera zu verbergen. Es war ein bisschen so, als würde man während der gesamten Dreharbeiten mit einem Zauberwürfel spielen. So gab es einige Sequenzen, in denen es recht einfach war, und andere, in denen sich die Verwendung von zwei Kameras als sehr kompliziert erwies.
Apropos kompliziert: Wie hat sich das Coronavirus auf die Dreharbeiten ausgewirkt?
Als wir den Film drehten, also im März 2021, wurden die ersten Impfempfehlungen ausgesprochen. Wir hatten für Dario und Françoise Impfstoffe besorgt. Sie hatten ihre erste Dosis ungefähr zwei Wochen vor Beginn der Dreharbeiten. Wir organisierten ebenfalls einen Impfstoff für Alex Lutz, da ich wollte, dass alle drei geimpft sind. Ich selbst habe mich bei der Gelegenheit auch impfen lassen. Wir waren damit die einzigen, die während der Dreharbeiten die Maske abnehmen durften. Insbesondere im Hinblick darauf, dass das Virus gerade für ältere Menschen riskant ist, war es ein günstiger Zufall, dass die ersten Impfstoffe im Februar 2021 auf den Markt kamen.
Darüber hinaus hatten wir auch einen COVID-Inspektor am Set, der alles überwachte. Da die Filmkulisse recht klein war und alle maskiert waren, herrschte eine ziemlich paranoide Stimmung auf dem Set. Im Grunde hätten wir den Film in vier Wochen drehen sollen, aber die Dreharbeiten dehnten sich auf fünf Wochen aus. Nach dem Dreh waren wir alle erschöpft. Man hatte fast den Eindruck, als hätte man fünf Wochen in einem U-Boot verbracht.
«Nach dem Dreh waren wir alle erschöpft. Man hatte fast den Eindruck, als hätte man fünf Wochen in einem U-Boot verbracht.»
Die Dreharbeiten spiegelten also auch gut die Pandemielage wider.
Ja, in der Tat. Eine weitere Auswirkung der Pandemie war, dass sich nachts niemand draussen aufhielt. Die einzigen Leute, die man auf der Strasse sah, waren Obdachlose und vor allem Junkies. Durch den rasanten Anstieg von Crack-Konsum während der Pandemiezeit etablierten sich in Paris mehrere Drogen-Hotspots, was dazu führte, dass es mittlerweile ein ganzes Viertel gibt, das von den Leuten «Stalincrack» genannt wird. Ich dachte mir, dass es gut wäre, auch diese Seite von Paris zu zeigen. Zudem hat es etwas Beunruhigendes, die Geschichte eines alten Paares in diesem Viertel zu verorten.
In einem Interview haben Sie auch gesagt, dass echte Drogenabhängige im Film mitgewirkt haben.
Ja, sie waren sehr sympathisch. Ich habe ihr Produkt allerdings nicht probiert, da mir wegen meiner Hirnblutung im letzten Jahr empfohlen wurde, vorsichtig zu sein. (lacht)
Neben diesen authentischen Statisten zeigt der Film auch eine authentische Darstellung von Demenz. Wie haben Sie sich mit dem Thema des Gedächtnisverlusts auseinandergesetzt, um ein so tiefes Verständnis davon zu erlangen?
Blackouts hatte ich auch schon, vor allem, wenn man viel feiert und viel trinkt. Aber die Altersdemenz habe ich in jungen Jahren bei meiner Grossmutter mütterlicherseits erlebt. Meine Mutter ist am Ende ihres Lebens ebenfalls an Alzheimer erkrankt. Zwar war die Erkrankung von kurzer Dauer, aber der Verlauf war sehr heftig. Ich bin sechs Monate lang von Paris nach Buenos Aires hin- und wieder zurückgefahren, um Zeit mit ihr zu verbringen, und dann ist sie gestorben. Man stirbt jedoch nicht an Demenz; sie starb an anderen Dingen, aber die letzten Monate ihres Lebens waren sehr kompliziert… ein bisschen wie in meinem Film.
Ich finde allerdings, dass mein Film in Bezug auf die Darstellung von Demenz sehr zurückhaltend ist. Demenz geht oft mit viel schwereren psychotischen Symptomen einher, als die, die man im Film sieht. Es gibt viele Dinge, die im hohen Alter passieren können, aus denen ich einen viel provokativeren Film hätte machen können. Stattdessen wollte ich diesmal einen sanften und keinen provokativen Film drehen.
«Mein Film ist in Bezug auf die Darstellung von Demenz sehr zurückhaltend. Demenz geht oft mit viel schwereren psychotischen Symptomen einher, als die, die man im Film sieht.»
In mehreren Interviews weisen Sie darauf hin, dass «Vortex» einen zum Weinen bringt. Gab es auch Tränen während der Dreharbeiten?
Es gibt eine Einstellung, in der Françoise zu weinen beginnt, obwohl ich sie nicht darum gebeten hatte. Ich weiss nicht, ob sie das geplant hatte oder ob es impulsiv war. Ich stand währenddessen hinter der Kamera, und als ich sie sah, überkam es auch mich. In dieser Sequenz sieht man auch, wie Dario sich aufrichtig Sorgen um sie macht. Um sie zu besänftigen legt er seine Hände auf die ihre. Diese spontane Geste ist wirklich sehr schön. Es gibt tatsächlich Momente, in denen die Dinge vor der Kamera ganz natürlich ablaufen und echt wirken. Darios Geste, die nicht gefragt war, hat das Ende der Sequenz wirklich rührend gemacht.
–––
«Vortex» läuft seit dem 21. April 2022 in den Deutschschweizer Kinos.
Trailer- und Bildquelle: Xenix Filmdistribution GmbH / Titelbild: Nederlands: Gaspar Noé op Film Fest Gent 2021. Quelle: Joost Pauwels
No Comments