Mit «Vortex» schafft Gaspar Noé ein sanftes, gleichermassen radikales Werk über die Liebe im Alter und über das Lebensende. In den Hauptrollen spielen die französische Schauspielikone Françoise Lebrun und der italienische Horrormeister Dario Argento – Kino-Kultfiguren, die im Fast-Zwei-Personen-Stück mit improvisierten Dialogen glänzen können.
«Vortex» dreht sich um die letzten Tage eines liebenden Ehepaares. Gerade noch sind sie dabei, auf ihrem blühenden Balkon glücklich einen Aperitif zu trinken, als plötzlich die harte Realität einbricht: Bei den beiden machen sich nämlich zunehmend Altersschwächen bemerkbar. Sie (Françoise Lebrun) erkrankt an Demenz, er (Dario Argento) leidet unter den Folgen eines Schlaganfalls. Zwar sind die beiden auf äussere Hilfe angewiesen, doch sie bestehen auf Selbstständigkeit. Auch fällt es ihnen schwer, ihr jahrzehntelanges Zuhause samt all ihrer Memorabilien aufzugeben.
«‹Vortex› dreht sich um die letzten Tage eines liebenden Ehepaares.»
Ihr Sohn (Alex Lutz) tut unter diesen Umständen sein Bestes, um seinen Eltern unter die Arme zu greifen, doch auch er stösst allmählich an seine Grenzen. Der ehemalige Drogenabhängige versucht sich mit Gelegenheitsjobs im Filmbereich über Wasser zu halten. Da er selbst Vater eines Kleinkindes ist, kann er seine Eltern aber nicht im nötigen Umfang unterstützen.
So schlagen sich seine altersschwachen Eltern mehr schlecht als recht durch ihren Alltag: Seine Mutter verirrt sich im eigenen Viertel, lässt den Gasherd versehentlich an, wirft wichtige Papiere weg. Zumeist sind die pensionierte Psychoanalytikerin und der noch aktive Filmkritiker daheim. Dort verbringt sie ihre Zeit damit, Dokumente und Medikamente zu ordnen und die Wohnung aufzuräumen, während er ein Buch über Filme und Träume verfasst.
«Im Vergleich zu seinem vorangegangenen Œuvre kommt das neueste Werk von Regie-Berserker Gaspar Noé erstaunlich ruhig daher. Seine pessimistische Lebensgrundhaltung bleibt in ‹Vortex› aber nach wie vor erhalten: Im Film wird die grausame, erbarmungslose Natur des menschlichen Schicksals ausgestellt.»
Im Vergleich zu seinem vorangegangenen Œuvre kommt das neueste Werk von Regie-Berserker Gaspar Noé erstaunlich ruhig daher. Seine pessimistische Lebensgrundhaltung bleibt in «Vortex» aber nach wie vor erhalten: Im Film wird die grausame, erbarmungslose Natur des menschlichen Schicksals ausgestellt. Der französisch-argentinische Regisseur konzipiert Filme meist wie Achterbahnen, wobei es ihm darum geht, möglichst viele Emotionen und Reaktionen beim Publikum hervorzurufen. Auch sein aktueller Film gleicht einer Achterbahn, die allerdings nur immer weiter abwärts zu einem endgültigen und ausweglosen Ende führt.
Die Geschichte über die Liebe im Alter und über das Sterben dürfte wohl bei einigen Tränen fliessen lassen. Damit löst auch dieser Noé-Film körperliche Empfindungen aus; allerdings versetzt das Enfant terrible die Zuschauenden diesmal nicht in Angst und Schrecken, wie es noch bei «Seul contre tous» (1998) oder «Irréversible» (2002) der Fall war, sondern vielmehr in tiefe Trauer und Verzweiflung.
Der Regisseur der gerne mit der narrativen Erzählweise des konventionellen Kinos bricht – in «Irréversible» verläuft die Handlung rückwärts und «Enter the Void» (2009) wird grösstenteils durch die Augen des Protagonisten geschildert –, bedient sich hier des Split-Screen-Verfahrens, um seine Geschichte zu erzählen. Das Publikum begleitet den Alltag beider Individuen somit sowohl gleichzeitig als auch getrennt voneinander, obschon sie sich zumeist im selben Raum aufhalten.
Zwar zeichnet sich «Vortex» formal vor allem durch die Verwendung des Split-Screens aus, jedoch kommen auch weitere Kunstgriffe zum Zug, darunter der Einschub eines Musikvideos sowie die Benutzung von gedämpften Farben und Schwarz-Weiss-Aufnahmen. Dabei wirken diese künstlerischen Eingriffe keineswegs schwerfällig; sie verleihen dem Film nicht nur einen ästhetischen Reiz, sondern unterstützen die Handlung. Diese spielerische Herangehensweise zeugt von Noés ununterbrochenem Ausloten filmischer Möglichkeiten.
Und auch seine Cinephilie macht sich in seinem neuen Werk bemerkbar. Der Soundtrack etwa, der sich von der elektronischen Tanzmusik aus «Climax» (2018) weitgehend unterscheidet, besteht vornehmlich aus einflussreichen Musikstücken der Filmgeschichte, wie dem «Thème de Camille» aus Jean-Luc Godards «Le Mépris» (1963) und Ennio Morricones «Se sei qualcuno è colpa mia» aus dem Italowestern «Il mio nome è Nessuno» (1973).
«Die Hauptrollen werden von den Kino-Kultfiguren Françoise Lebrun und Dario Argento verkörpert. Die Grande Dame des französischen Kinos und der italienische Horror-Regisseur brillieren mit ihren improvisierten Dialogen, in dem als Kammerspiel angelegten Film.»
Die Hauptrollen werden von den Kino-Kultfiguren Françoise Lebrun («La Maman et la Putain») und Dario Argento («Suspiria») verkörpert. Die Grande Dame des französischen Kinos und der italienische Horror-Regisseur brillieren mit ihren improvisierten Dialogen, in dem als Kammerspiel angelegten Film. Insbesondre Lebrun, die primär mit Mimik und Gestik spielt, liefert eine ergreifende Darbietung ab. Und auch Alex Lutz kann in der Rolle des besorgten, aber überforderten Sohnes überzeugen.
Im Film stehen nicht nur professionelle Schauspieler*innen vor der Kamera; sondern auch echte Drogenabhängige haben einen kurzen Auftritt. Neben diesen authentischen Statisten, die dem italienischen Neorealismus alle Ehre erweisen und Paris in einem ungewohnten Licht erscheinen lassen, zeigt der Film auch eine authentische Darstellung einer Demenzkrankheit. Diese Authentizität ist vorwiegend der universellen Thematik, den improvisierten Dialogen sowie dem observierenden Modus der Kameras zu verdanken. Benoît Debies Kameras, die den beiden Protagonist*innen auf Schritt und Tritt folgen, vermitteln dabei den Eindruck physischer Nähe.
Mit dieser Mischung aus innovativen Gestaltungsmitteln, vorzüglicher Besetzung und hautnaher Kameraführung konnte Noés neuester Film auf mehreren Filmfestivals glänzen: «Vortex» wurde unter anderem mit dem Grand Prix für den besten Film am Film Fest Gent und dem Preis für den besten Film am Dublin International Film Festival ausgezeichnet. Der Regisseur bringt mit seinem ruhig inszenierten Werk die ausweglose Liebesgeschichte eines älteren Paares erbarmungslos, eindrücklich und berührend auf die Leinwand. Mit «Vortex» zeigt sich der Provokateur schlechthin von seiner sanfteren Seite und beweist, dass sich auch ein alter Hase immer wieder neu erfinden kann.
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Kinostart Deutschschweiz: 21.4.2022
Filmfakten: «Vortex» / Regie: Gaspar Noé / Mit: Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz / Frankreich, Belgien, Monaco / 142 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
Gaspar Noés «Vortex» ist ein berührendes Kammerspiel über das gemeinsame Älterwerden. In den Hauptrollen glänzen Kinoikone Françoise Lebrun und Horrormeister Dario Argento.
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