Alfred Gough, Miles Millar und Tim Burton schenken Netflix mit «Wednesday» die wahrscheinlich erfolgreichste Serie in diesem Jahr. Die Mischung aus schablonenhafter Struktur und Burtons verquerer Ideenwelt geht erstaunlich gut auf und die «Addams Family» kommt ohne grössere Verrenkungen und dank eines guten Casts im Jahr 2022 an. Wenn man den Regisseur in den nächsten Staffeln von der Leine lässt und sich etwas mehr aus dem Setting heraustraut, liegt in der Serie das Potenzial zu einem Halloween-Dauerhit.
Tim Burton und die «Addams Family»: eigentlich ein Match made in heaven, passt die morbid-verrückte Familie mit Hang zur Theatralik doch genau in das Beuteschema des Regisseurs, zu dessen Grosstaten skurrile und dennoch feinfühlige Porträts von Aussenseitern gehören – siehe «Edward Scissorhands» (1990), «Ed Wood» (1994) und «Sweeney Todd» (2007). Bei den beiden Verfilmungen aus den Neunzigerjahren nahm aber stattdessen Barry Sonnenfeld («Men in Black») auf dem Regiestuhl Platz und prägt damit das Bild der finsteren Familie bis heute.
Nun darf sich Burton dafür im Netflix-Spin-off «Wednesday» austoben – zumindest in den ersten vier der insgesamt acht Episoden. Er und die Serie versuchen, die etwas anachronistischen Figuren ins Jahr 2022 zu hieven und einem jüngeren Publikum schmackhaft zu machen.
Wie unschwer am Serientitel zu erkennen, dreht sich das Grusel-Revival um den gefühlskalten ältesten Spross der Addams-Familie. Der Rest der morbiden Sippe schaut höchstens für kleine Gastauftritte vorbei. Dass sie sich distanzieren, hat auch einen Grund: Nach einem Zwischenfall mit Piranhas fliegt die unangepasste Wednesday (Jenna Ortega) von der Schule, weshalb ihre Eltern Gomez (Luis Guzmán) und Morticia (Catherine Zeta-Jones) sie auf die Nevermore Academy schicken, wo sich die Einzelgängerin unter Werwölfen, Vampiren, Sirenen und anderen abenteuerlichen Kreaturen hoffentlich besser entfalten kann. Doch Wednesday fühlt sich allein noch immer am wohlsten und hat gar keinen Bock darauf, Freundschaften zu schliessen – egal, ob mit Menschen oder mit Monstern.
Zudem erwachen in ihr so langsam ihre übernatürlichen Fähigkeiten – ein Umstand, der ihr das Leben zusätzlich erschwert. Ganz normale Teenager-Probleme also. Und als wäre all das noch nicht genug, wird die Stadt plötzlich von einer monströsen Mordserie erschüttert. Wednesdays Interesse ist geweckt und sie versucht, dem Täter auf die Spur zu kommen, und stösst dabei auf ein altes Geheimnis, das eine geheime Organisation, ihre Eltern und einen uralten Fluch beinhaltet.
Dass die Addams Family immer aus der Zeit gefallen zu sein scheint, machte schon immer viel von ihrem Reiz aus, sei es in Charles Addams‘ ursprünglichen Zeitungscartoons, der Schwarzweiss-Serie aus den Sechzigerjahren oder den Sonnenfeld-Adaptionen. Wednesay mit der modernen Technik zu konfrontieren und sie mit Smartphones und Social Media hadern zu lassen, war also der simpelstmögliche Ansatz für eine 2020er-Neuinterpretation. Und tatsächlich: Diese Wednesday kann mit TikTok nichts anfangen und benutzt zum Schreiben eine Schreibmaschine.
«Die morbiden Marotten der Addams funktionieren immer dann am besten, wenn sie vor dem Hintergrund der Normalität gezeigt werden und sie die normalen Leute mit ihrem schauerlichen Unfug verstören.»
Doch diese Gags halten sich zum Glück im Rahmen und fügen sich organisch in die Geschichte und das Setting ein. Dass «Wednesday» in einem Monster-Internat spielt, ergibt nur auf den ersten Blick Sinn – denn die morbiden Marotten der Addams funktionieren immer dann am besten, wenn sie vor dem Hintergrund der Normalität gezeigt werden und sie die normalen Leute mit ihrem schauerlichen Unfug verstören. Auch ist die übernatürliche Schule als Schauplatz heutzutage nicht mehr die alleroriginellste Idee, und leider bietet auch das Setdesign trotz einiger netter Einfälle keine richtigen Hingucker.
Dafür kann die Serie aber mit unterhaltsamen Figuren punkten. Die dem Gruselgenre wohl nicht abgeneigte Jenna Ortega («Scream», «X», «Studio 666») hat sichtlich Spass daran, ihre grossen Augen mal unheimlich, mal enttäuscht und meist genervt in alle Richtungen zu rollen, und schafft es, dass man mit ihrer an sich emotionslosen Figur – bis auf einige gar skrupellose Momente – immer mitfiebert. Ortega als Wednesday macht grossen Spass.
Das gilt mit Abstrichen auch für die Nebenfiguren. Diese sind inhaltlich zwar nicht mehr als zweckmässige Staffage, doch Emma Myers weiss als süss-konträre Mitbewohnerin Enid die Herzen zu erwärmen, Joy Sunday («Dear White People») als High-School-Queen Bianca die Protagonistin herauszufordern, und Gwendoline Christie («Game of Thrones», «The Sandman») als strenge und undurchsichtige Schulleiterin Wednesday in die Schranken zu weisen. Das unvermeidliche Liebesdreieck nimmt nicht mehr Platz ein als nötig und dient vor allem als Finte für das Whodunit, das sich ab der Halbzeit entblättert. Als kleines Insider-Schmankerl spielt die Neunzigerjahre Wednesday Christina Ricci eine Botaniklehrerin an der neuen Schule.
«Das sowohl optische als auch humoristische Highlight ist ‹Thing›, Wednesdays treuer Begleiteter in Form einer abgetrennten Hand (in der deutschen Synchronisation heisst er, noch passender, ‹Eiskaltes Händchen›).»
Doch das sowohl optische als auch humoristische Highlight ist «Thing», Wednesdays treuer Begleiteter in Form einer abgetrennten Hand (in der deutschen Synchronisation heisst er, noch passender, «Eiskaltes Händchen»). An der von Illusionist Victor Dorobantu gespielten Hand kann man sich kaum sattsehen. Die restlichen Effekte sind leider nur sehr mittelmässig ausgefallen, was besonders beim für die Mordserie verantwortlichen Monster für Ernüchterung sorgt.
Man hätte sich für die die Modernisierung von Wednesday Addams durchaus etwas Spannenderes erhoffen können als ein High-School-Abenteuer à la «Chilling Adventures of Sabrina» (2018–2020). Dank des makabren Humors, eines spannenden Gothic-Crime-Plots, der interessanten Jenna Ortega und des Szenendiebs «Thing» ist die Serie trotz ihrer auffälligen Schwächen sowohl für Addams-Fans als auch für Neulinge gleichermassen sehenswert.
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Jetzt auf Netflix
Serienfakten: «Wednesday» / Creators: Alfred Gough, Miles Millar / Mit: Jenna Ortega, Gwendoline Christie, Riki Lindhome, Jamie McShane, Emma Myers, Joy Sunday, Christina Ricci, Victor Dorobantu, Luis Guzmán, Catherine Zeta-Jones / USA / 8 Episoden à 45–57 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Courtesy of Netflix © 2022
«Wednesday» ist mit Abstrichen eine schaurig-spannende Angelegenheit für «Addams Family»-Fans und -Neulinge zugleich. Für ein Quäntchen mehr Tim-Burton-Wahnsinn ist aber noch Platz.
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