Das Musical «West Side Story» ist ein Monument der US-Popkultur. Meisterregisseur Steven Spielberg hat sich an eine Neuinterpretation gewagt – mit atemberaubenden Resultaten.
1957 revolutionierten Komponist Leonard Bernstein, Songschreiber Stephen Sondheim, Librettist Arthur Laurents und Choreograf Jerome Robbins mit dem Broadway-Hit «West Side Story» ihr eigenes Medium. Die «Romeo and Juliet»-Variation des New Yorker Quartetts, die von der blutigen Fehde einer weissen und einer puertoricanischen Strassengang erzählt, gilt bis heute als Meilenstein in der Entwicklung des Bühnenmusicals von «anspruchsloser» leichter Unterhaltung zum «seriösen» Erzählformat. Vier Jahre später verfilmten Robbins und Robert Wise den Stoff: Das Resultat waren zehn Oscars und die Geburt eines Schlüsselwerks des Hollywood-Musicals.
Es sind entsprechend grosse Fussstapfen, in die eine Zweitverfilmung treten muss: Wie um alles in der Welt soll man so einem Erbe auch nur ansatzweise gerecht werden? Die an den Kinokassen schändlicherweise gefloppte, inzwischen auf Disney+ verfügbare 2021er-Version gibt Aufschluss: Es kann sicherlich nicht schaden, wenn auf dem Regiestuhl ein Jahrhundertregisseur wie Steven Spielberg sitzt.
«Die ‹Romeo and Juliet›-Variation des New Yorker Quartetts, die von der blutigen Fehde einer weissen und einer puertoricanischen Strassengang erzählt, gilt bis heute als Meilenstein in der Entwicklung des Bühnenmusicals von ‹anspruchsloser› leichter Unterhaltung zum ‹seriösen› Erzählformat.»
Zusammen mit dem Dramatiker Tony Kushner («Angels in America»), der für ihn schon «Munich» (2005) und «Lincoln» (2012) schrieb, schickt sich Spielberg in seinem «West Side Story» an, dem Quellenmaterial sowohl seinen eigenen Stempel aufzudrücken als auch seine Reverenz zu erweisen. Die beiden belassen den Bandenkrieg zwischen den «Jets», angeführt vom charismatischen Riff (grandios: Mike Faist), und den «Sharks», bei denen der schlagkräftige Boxer Bernardo (David Alvarez) das Sagen hat, in der Upper West Side der Fünfzigerjahre und bemühen sich, den gesellschaftskritischen Subtext des Stoffs noch expliziter zu machen.
Noch stärker als in den Bühnen- und Leinwandvorlagen kämpfen die beiden Gangs nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen die sozialen und ökonomischen Umwälzungen in ihrem Territorium: Die Jets fühlen sich von den puertoricanischen Einwanderern an die Wand gedrängt; die Sharks, die in dieser Version endlich konsequent untertitelloses Spanglish sprechen, stehen für ihr Recht, am amerikanischen Traum teilzuhaben, ein – doch letztlich sehen beide Seiten ihrem Untergang entgegen, steht ihnen wegen fortschreitender Gentrifizierung und entsprechender Neubauvorhaben doch die Zwangsräumung bevor.
Es sind verständliche, letztlich aber kosmetische Updates, die Kushner und Spielberg auf der inhaltlichen Ebene vornehmen. Abgesehen von der einen oder anderen Wegwerfbemerkung und einiger neu kontextualisierter Songzeilen, bleibt «West Side Story» als Adaption ziemlich oberflächlich – vielleicht auch, weil es mit Lin-Manuel Mirandas unlängst verfilmtem Broadway-Durchbruch «In the Heights» bereits eine «West Side Story»-Hommage mit Gentrifizierungsthematik gibt.
Doch die verbotene Liebe zwischen Riffs bestem Freund, dem Ex-Jet Tony (Ansel Elgort), und Bernardos kleiner Schwester Maria (Rachel Zegler) lebte schon in den vergangenen Versionen weniger von der emotionalen Schlagkraft dieser archetypisch-künstlichen Konstellation als von der geballten Wucht von Bernsteins Musik, Sondheims Liedern, Robbins‘ Tanzeinlagen und – auf der Leinwand – der Bildsprache von Robert Wise und Kameramann Daniel L. Fapp.
Entsprechend macht Spielbergs Film das, was er als Interpretation schuldig bleibt, als atemberaubendes Stück Kinohandwerk wett. Von der ersten Szene an, als Spielberg-Hauskameramann Janusz Kamiński die Krankamera über die Trümmer eines Häuserblocks schweifen lässt, bevor sich Jets und Sharks durch die detailverliebt ausgestatteten Kulissen von Wes–Anderson-Szenenbildner Adam Stockhausen tanzprügeln, ist klar, dass man es hier mit visuellen Denker*innen hinter der Kamera zu tun hat: Menschen, die wissen, dass ein melodramatisches Musical wie «West Side Story» nur funktionieren kann, wenn die Bilder ebenso konstruiert, ebenso überkandidelt, ebenso überlebensgross sind.
«Was auf diese virtuose Eröffnungssequenz folgt, ist eine entfesselte Demonstration, wie grenzenlos schön, dynamisch und schlichtweg hinreissend die siebte Kunst sein kann. Spielberg, Kamiński, Stockhausen und Choreograf Justin Peck ziehen sämtliche Register und legen eine unvergessliche Szene nach anderen hin.»
Was auf diese virtuose Eröffnungssequenz folgt, ist eine entfesselte Demonstration, wie grenzenlos schön, dynamisch und schlichtweg hinreissend die siebte Kunst sein kann. Spielberg, Kamiński, Stockhausen und Choreograf Justin Peck ziehen sämtliche Register und legen eine unvergessliche Szene nach anderen hin: der Turnhallenball, der vom furios inszenierten Kollektivtanz zum entrückt-intimen ersten Treffen von Tony und Maria wird. Das Spiel mit Licht und Wasser, als die beiden in der nächtlichen Gasse Sondheims «Tonight» von sich geben. Der schwindelerregend rasant geschnittene Schabernack, den die Jets in «Gee, Officer Krupke» auf dem Polizeiposten treiben. Das fulminante, herrlich farbenfrohe Ensemble-Stück «America». Der Streit zwischen Riff und Tony, deren Anspannung im faszinierend ökonomisch gefilmten «Cool» in eine mitreissende Mischung aus Tanz, Turnübung und Western-Showdown übersetzt wird.
Somit hebelt Spielberg auch den obligaten Vorbehalt aus, sein «West Side Story» sei eine «unnötige» Wiederauflage. Nein, die Welt «brauchte» keine Neuinterpretation eines der wichtigsten Popkultur-Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Aber jetzt, da es existiert, lässt sich konstatieren: Das Kino ist um ein Beispiel reicher, zu welch magischen Momenten es fähig ist, wenn sich ein grosser Künstler frei entfalten kann.
Über «West Side Story» wird auch in der Oscar-Spezialfolge des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Jetzt auf Disney+
Filmfakten: «West Side Story» / Regie: Steven Spielberg / Mit: Ansel Elgort, Rachel Zegler, Ariana DeBose, Mike Faist, David Alvarez, Rita Moreno, Brian d’Arcy James, Corey Stoll, iris menas / USA / 156 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Disney+ / © 2021 20th Century Studios. All Rights Reserved.
Inhaltlich mag Steven Spielberg dem «West Side Story»-Stoff nicht allzu viel hinzufügen. Doch seine farbenfrohe Neuinterpretation ist dennoch ein Fest für die Sinne. So mitreissend kann nur Kino sein!
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