Der argentinische Regisseur Mariano Llinás bringt mit seinem epochalen «La flor» einen Film ins Kino, der mit einer Laufzeit von 833 Minuten sämtliche Konventionen sprengt, die Zuschauerin für 14 Stunden in den Kinosessel zwängt und sie so aus ihrer Komfortzone drängt. Wer schaut sich so einen langen Film an? Ich will es wagen und starte einen Selbstversuch. Dieser sieht folgendermassen aus: Ich will mir die gesamten 833 Minuten von «La flor» in einem Rutsch anschauen. Disclaimer: Ich habe es nicht geschafft. Der Moviemarathon ist dennoch ein Erlebnis, welches in meine persönlichen Kinoannalen eingegangen ist.
Grundsätzlich habe ich es nicht so mit allzu langen Filmen. Selbst bei Serien, die geradezu zum Bingewatching à la Netflix and Chill einladen, schaue ich meist höchstens drei Folgen am Stück, bevor mir meine Augen zuklappen und ich mit einer Mütze Schlaf die gesehene Fiktion verarbeiten muss, bevor sie sich mit meiner Realität vermischt. Selbst bei zweistündigen Filmen, die ich auf Streamingplattformen sehe, lege ich gerne ein kleines Päuschen ein, um kurz frische Luft zu schnappen (= eine Zigi rauchen zu gehen). Meine längsten Moviemarathons beschränken sich auf die jeweils kompletten Trilogien von Zemeckis‘ «Back To The Future» (insgesamt 342 Minuten) sowie Peter Jacksons «Lord Of The Rings» (558 Minuten en totale). Zudem ist es an Festivals nicht unüblich, dass ich bis zu vier Filme am gleichen Tag schaue (wenn schon, denn schon), und erst vor ein paar Tagen habe ich in meinem Londoner Lieblingskino, dem Prince Charles Cinema, ebenfalls drei Filme am Stück gesehen, darunter ein ellenlanger Tarkovsky. Doch all das kann die 14 Stunden von «La flor» nicht toppen. Die Aufregung wächst: Um was geht es in dem Film, der zumeist nur kryptisch beschrieben wird? Wie erzählt er? Wie will Llinás die sechs Episoden zu einem Magnum opus verschmelzen? Und: Was, wenn mir «La flor» einfach nicht gefallen will?
Sod The Sunshine. Come Sit In The Dark. <3
«La flor»: Der Film
Der Trailer zu «La Flor», den ich erst nach den 14 Stunden gesehen habe.
Was ist er also, dieser Film, dieser «La flor»?
Mariano Llinás, Regisseur von «La flor» gründete 2003 mit Laura Citarella, Alejo Moguillansky und Agustín Mendilaharzu die Filmgruppe El Pampero Cine, die zurück zu den Wurzeln des Kinos strebt und gleichzeitig mit experimentellem Filmen das argentinische Kino auffrischen will. Mit «La Flor», seiner Filmblüte, die von 2009 bis 2016 gefilmt wurde, würdigt er sechs verschiedene Genres der Kinogeschichte und ist der längste Spielfilm, der jemals in Argentinien geschossen wurde. Die vier Frauen, die den Film leiten und tragen, namentlich Pilar Gamboa, Elisa Carricajo, Laura Paredes und Valeria Correa, haben 2003 die Theatergruppe «Piel de Lava» gegründet, in der sie auch zwischen den Dreharbeiten gespielt haben. Das Mammutprojekt «La Flor» strebt danach, nicht das Endergebnis derer Schauspielkarrieren darzulegen, sondern zeichnet selbst diese Erfahrung auf, begleitet die vier Schauspielerinnen auf ihrer Karriere.
Der Selbstversuch
Wer sich 14 Stunden Film am Stück anschauen möchte, sollte sich gut vorbereiten, um nicht wegen einer vorher nicht bedachten Dringlichkeit den Versuch abbrechen zu müssen. Ich mag Listen, weswegen ich mir gleich eine zusammenstelle. Die Liste mit Dingen, die ich dazu brauche, sieht folgenderweise aus:
– ein gemütlicher Ort, der verschiedene Sitz- und Liegepositionen erlaubt
– ein Ladekabel für mein Macbook, damit dem nicht der Saft ausgeht
– genügend Snacks, damit mir nicht der Saft ausgeht
– Stift und Papier, um alle Empfindungen, körperlich wie seelisch, zu notieren
– ein zuvor vorbereitetes SMS-Template, in dem steht, dass man die nächsten 14 Stunden nicht erreichbar ist, weil man einen Film schaut. Dieses dann bitte auch an alle Leute abschicken, damit sich niemand Sorgen macht.
— DISCLAIMER: Ich habe es nicht vor Samstag geschafft, «La Flor» zu sehen. Wer nur für den Film hier ist und sich nicht für die Geschichte der gestrandeten Lola interessiert, kann von hier gleich zum Samstag-Abschnitt weiterscrollen. —
Donnerstag, 25. Juli 2019 – Annullierte Flüge bescheren Hotelsuiten als Homecinema
Die Geschichte beginnt am Donnerstagnachmittag in Stoke Newington, im nördlichen Osten meiner hochoffiziellen Lieblingsstadt London. Hier habe ich die letzten zehn Tage verbracht und mir wie jeden Sommer die aktuellen Kunstausstellungen und filmischen Retrospektiven angeschaut. Mein Flug zurück nach Zürich in mein trautes Heim, wo ich den «La Flor»-Marathon am nächsten Tag beginnen will, geht um 20.05 Uhr. Eben aus Ari Asters neuem Daylight-Horrorstreifen «Midsommar» wieder zurück in die Realität Hackneys getreten, begebe ich mich mitsamt meines ganzen Gepäcks zur nächsten Tube-Station.
«Midsommar» und Hackney Gelato.
Der Zugang zur Overground-Linie, die mich zur nächsten Piccadilly-Underground verfrachten sollte, wird mir aber durch ein Schild verwehrt: Man muss erwähnen, dass das Thermometer in London an diesem Tag 38 Grad anzeigt und meine goldenen Leggings schon nach dem kurzen Spaziergang von meiner Londoner Bleibe bis zur Overground-Station komplett verschwitzt ist. Ich steige also alternativ in einen Doppeldeckerbus ein, bin trotzdem noch ultrapünktlich am Flughafen und checke meinen Koffer ein – was, wie sich kurze Zeit später erweisen soll, ein grosser Fehler sein sollte. Während ich also darauf warte, die Maschine besteigen zu können, gehe ich in meinem Kopf nochmals meinen Plan für den nächsten Tag durch: um 8 Uhr aufstehen, dann Snacks besorgen und meinen leeren Kühlschrank mit diesen füllen, das Licht-Equipment meines letzten Drehs, das immer noch in meinem Zimmer liegt, an Sophia übergeben und dann: 10 Uhr, Start des Selbstversuches. Der Verleih hat mir freundlicherweise den Online-Screener geschickt, so dass ich den Film an meinem Laptop ansehen kann. Natürlich ist ein Filmerlebnis, das fürs Kino geschaffen ist, erst im Kino auch wirklich richtig gut, doch bei so einem langen Film ist es praktisch unmöglich, den ganzen Streifen in einem voll ausgestatteten Kinosaal zu sehen. Ein Tag lang Bild und Ton, bis der Film gegen ein Uhr morgens zu Ende sein sollte. Klingt nach einem perfekten Tag – doch meine Vorfreude wird von der Departure-Anzeige des Flughafens jäh unterbrochen. «LX339 – 20:05 – Destination: Zurich» steht da, und daneben: CANCELLED. Innerhalb von zehn Minuten verwandelt sich die idyllische Einkaufsmeile des Terminals 2 in ein Chaos, denn nicht nur mein Flug, sondern ein Dutzend anderer Flüge sind gestrichen. Ich bleibe im grössten Reisechaos in Heathrow stecken – den Filmmarathon in meinem Zimmer in Zürich kann ich mir also in meine nicht vorhandene Gesässtasche stecken.
Nichtsdestotrotz will ich den Film so bald wie möglich sehen. Ich bekomme von der Airline nach zwei Stunden Schlange stehen und weitere drei Stunden durch das trostlose Heathrow fahrend ein Hotelzimmer zugeteilt, das ich mit einem Wort beschreiben kann: LIT. Ein riesiges Bett, schnelles Wifi und ein Wasserkocher mitsamt Instant-Kaffee-Sachets. Zudem erinnert mich der endlose Gang an das Overlook-Hotel in Kubricks «The Shining», das ich einige Tage zuvor in der Kubrick-Ausstellung im Designmuseum in Minitaurform bewundert habe. Fliegen kann ich – wenn überhaupt – erst drei Tage später. Meinen Filmmarathon werde ich also hier veranstalten, in der industrial mill von Heathrow. Glücklich über diesen neuen Plan falle ich um drei Uhr morgens in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Zum Glück hat mich in diesem Gang keine Blutflut erfasst.
Freitag, 26. Juli – Wem das Ladekabel im Schlund von Heathrow stecken bleibt, muss lange reisen
Frisch und munter aufgewacht, checke ich nochmals meine Liste mit Dingen, die ich für den Selbstversuch benötige. Schnell wird mir klar: Es sieht nicht gut aus.
Ein gemütlicher Ort: Check. Stift und Papier: Check. Ein SMS-Template: Ersetzt durch das «Please Do Not Disturb»-Schild, das ich vor meine Zimmertüre hängen kann, um nicht von der Putzfrau überrascht zu werden. Aber: Snacks: Fehlanzeige. Und noch viel schlimmer: Ladekabel: Immer noch in meinem eingecheckten Koffer.
Check back later.
Ich tingele also zurück zum Terminal 2, wo mir zwei Security Guards den Weg zu meinem Koffer und somit meinem Ladekabel freilegen. Nichtsdestotrotz warte ich wieder geschlagene zwei Stunden darauf, in den Baggage Claim-Bereich zu gelangen. Der Guard, der mich zu den übriggebliebenen Gepäckstücken des gestrigen Reisechaos führt, meint nur, dass mein Koffer entweder hier wäre, oder sonst noch irgendwo im tiefen Schlund von Heathrow. Mein Koffer bleibt in diesem tiefen Schlund, wahrscheinlich nagen schon die Ratten an seinem Reissverschluss, vielleicht wird er von einem Stadtfuchs als bequeme Matratze zwischengenutzt. Den Koffer bekomme ich erst in Zürich wieder – bis dahin: keine Kleider, kein Ladekabel. Ersteres hat einen grossen Wert für mich, zweiteres eine grosse Dringlichkeit, in meinen Besitz zu kommen. Denn ohne Ladekabel kein Movie-Marathon. Frustriert steige ich also in ein Taxi, das mich zurück zu meiner temporären Bleibe führt und schmiede einen Plan, um an ein neues Ladekabel zu gelangen, damit ich am nächsten Tag meinen Selbstversuch durchführen kann. Via Bus geht’s also zur nächsten Tube-Station. Die Piccadilly-Line fährt nur alle 20 Minuten, die Hitzewelle legt Londons Verkehrsnetz nach wie vor lahm. Voller Euphorie erreiche ich dennoch um 19.50 Uhr den Apple Store in Covent Garden, wo ich dem Verkäufer meinen Binge-Watch-Plan erzähle. Das Ladekabel ist gekauft, dem Marathon steht nichts mehr im Wege. Da ich schon in der Stadt bin, entscheide ich mich dafür, mit meinen Freunden Luisa und Ali an eine WG-Party in Hackney zu gehen, um auf den verlängerten London-Aufenthalt anzustossen. Auf dem Weg dorthin kaufe ich mir meine Snacks ein und gelange mit diesen und dem Ladekabel zur besagten WG. Die Party ist on fire, an die Wand werden Ausschnitte von meinem Lieblingsanime «Ghost in the Shell» von Masamune Shirow projiziert und ich lerne lauter Leute kennen, denen ich von ihren Namensvettern im Filmbusiness (Drew Barrymore, Cameron Diaz) und von «La flor» erzähle. Gegen 3 Uhr morgens mache ich mich, beturtelt von Technobeats und Gin Tonics auf den Weg zu Luisas Wohnung, wo ich nochmals eine Nacht schlafe, bevor ich mich am Samstag, mit allen Dingen meiner Checkliste nun beisammen, auf den Weg zurück in mein Heathrow-Hotel mache, wo ich mich endlich dem Moviemarathon widmen kann.
When you can’t fly, you dance.
Samstag, 27. Juli – Cineastische Freude blüht auf
Frisch geduscht und munter: Vor dem 14-stündigen Filmmarathon.
Etwas dizzy von den Ereignissen der letzten Nacht und meiner Situation im Allgemeinen starte ich «La flor» offiziell um 16.44 Uhr. Mariano Llinás höchstpersönlich erklärt dem Publikum, wie «La flor» aufgebaut ist: Der Spielfilm besteht aus sechs voneinander unabhängigen Episoden, die für sich selbst stehen und jeweils einem Filmgenre zugeordnet werden können. Er skizziert die Struktur von «La flor» in sein Notizbuch: Die ersten vier Episoden haben einen Anfang, aber kein Ende. Die fünfte hat beides, während die sechste keinen Beginn verzeichnet, dafür ein Ende. Der Titel des Filmes wird klar: Die visualisierte Struktur des Filmes gleicht einer mit vier wehrhaften Blütenblättern versehenen Blume, zu Spanisch: la flor.
Die Skizze verbildlicht, wie die sechs Episoden den Mammutfilm strukturieren.
«La flor» entfaltet sich, die erste Episode beginnt: Ein B-Movie, in dem eine ausgegrabene Mumie Katzen und eine Mitarbeiterin des archäologischen Instituts in tollwütige Monster verwandelt. Die Notizen meines Logbuchs verraten mir, dass meine Augen schon um 17.09 Uhr leichte Müdigkeit verspüren, aber ich unterbreche die erste Episode nicht. Mir fällt die prominente, leicht übertriebene Filmmusik auf, die sich über die ganzen 14 Stunden ziehen wird. Die vier Protagonistinnen überzeugen mich in ihren Rollen in der ersten Episode: Llinás skizziert sie alle als starke und selbstbewusste Charaktere, die gegen manche Machos ankämpfen und ihr Schicksal in eigenen Händen halten. Ich bin erstaunt, dass ein männlicher Regisseur die weiblichen Figuren so tough zeichnet, was dazu führt, dass ich Llinás und sein Projekt schon von der ersten Minute an ins Herz schliesse. Die erste Episode neigt sich dem abrupten Ende zu und in einem der zahlreichen eingeflochtenen Intermezzi koche ich mir neuen Kaffee, snacke ein wenig und bestaune nochmals mein Hotelzimmer, das alles bietet, was das Herz begehrt, bis auf das fehlende WC-Bürsteli (Die arme Putzfrau, denke ich. Die arme Putzfrau.)
Überlebenswichtig: Viel Koffein und Snackerinos.
Die zweite Episode von «La Flor» beginnt, neues Setting, neue Charaktere, neue Geschichte. Nun geht es um ein Schlagermusik-Pärchen, das die eigene Beziehung kitschig vermarktet, in Wirklichkeit aber nicht mehr zusammen ist und die Beziehung auch gar nie so rosig ausgesehen hat, wie die Lyrics ihrer Songs dies andeuten wollen. Die Figurenkonstellation wächst zu einem komplexen Beziehungsdrama, deren extravagante Charaktere einen alleinstehenden Film problemlos tragen könnten.
Schon ist die Episode mit einem end to remember zu Ende und Episode drei setzt an. Dies ist der Spionagefilm, der insgesamt 344 Minuten dauert. (Llinás warnt die Zuschauer in einem Insert sehr emphatisch vor dieser Länge.) Vier Geheimagentinnen müssen einen Professor in Geiselhaft zu einem verlassenen Flughafen bringen. Doch ihre Gegenspieler sind nicht weit, und die vier Frauen wissen, dass ihr letztes Stündchen bald geschlagen hat. Doch zuvor werden die Vorgeschichten der vier sich wildfremden Geheimagentinnen in Rückblenden erzählt. Spannend: Pilar Gamboa, die in der vorherigen Episode als aufbrausende Sängerin schnulzige Balladen geschmettert hat, spielt in dieser Episode eine stumme Auftragskillerin. Weiter auseinander könnten diese beiden Rollen nicht liegen, und dennoch werden beide glaubhaft von Gamboa interpretiert.
Mein Laptop und ich, beste Freunde für 14 Stunden.
Mit dem Ende der dritten Episode neigt sich auch meine Aufmerksamkeit dem Ende zu. Zudem streikt seit geraumer Zeit der Muskel meines linken Augenlids, so dass mein Auge nur mit grosser Anstrengung sperrangelweit offen bleibt. Die Ungewissheit, ob ich nun am nächsten Tag tatsächlich fliegen kann, rät mir zusätzlich, lieber ein wenig Schlaf nachzuholen. Es ist 1.27 Uhr, und ich drücke auf die Notruftaste: Abort mission! Abort mission!
Die Kopfhörer sind ausgesteckt, der Browser geschlossen. Mir wird klar, dass ich die 14 Stunden unmöglich an einem Stück ansehen kann. Besser für den Film, denke ich. Denn er verdient volle Aufmerksamkeit und keine Schläfrigkeit der Zuschauer.
Tough: Die vier Schaupielerinnen schrecken in Episode drei vor nichts und niemandem zurück.
Sonntag 28. Juli (und die beiden darauffolgenden Tage) – Die Summe ist grösser als ihre zerstückelten Einzelteile
Am Sonntag scheint meine Reise-Odyssee an einem Ende angekommen zu sein. Bevor ich in mein Flugzeug steige, das nun endlich abflugbereit ist, stelle ich nochmals sicher, dass mein nach wie vor verschollener Koffer ebenfalls mit mir mitfliegt. Der Check-In-Betreuer tippt ein wenig an seinem Computer herum, bevor er mir versichert, dass mein Koffer gleichzeitig wie ich den Touchdown in Zürich erzielen wird. Ich vertraue ihm nur halbwegs, hebe in Heathrow ab, lande in Zürich und warte am Gepäckband auf meinen kleinen Reisebegleiter. Dieser lässt sich aber trotz aller Bemühungen nicht blicken und ich gehe ohne ihn, dafür mit einer Vermisstenanzeige der Lost & Found-Abteilung den Flughafen (Disclaimer: Ich habe meinen Koffer bis heute, Donnerstag, noch nicht zurück, die Fluggesellschaft versichert mir aber, dass er sich bereits wieder in Zürich befindet. Ich fühle mich da nicht so versichert.). In meiner WG angekommen, fackele ich nicht zu lange herum, sondern setze mich gleich in mein Bett, um dort anzusetzen, wo ich letzte Nacht aufgehört habe. Mir ist allerdings klar, dass ich mir die restlichen sieben Stunden nicht in einem Rutsch anschauen kann. Zu voll ist dafür mein Zürcher Alltagsprogramm, zu müde meine Augen, zu abgenutzt meine Nerven.
Ich setze also dort an, wo ich aufgehört habe. Die vierte Episode entpuppt sich als meine absolute Lieblingsepisode. Es ist ein Metafilm, ein Film übers Filmemachen, ein Making-of. Zu Beginn sehen wir die Schauspielerinnen in ulkiger Verkleidung, wie sie den Regisseur um genauere Infos zur nächsten Episode bitten. Dieser weiss nicht recht, was sagen, denn er hat genug von den vier «chicas» und will lieber Bäume filmen. Das Filmteam macht sich also auf, um filmenswerte Bäume zu finden. Doch die Schauspielerinnen lassen dies nicht lange auf sich sitzen und setzen zur übernatürlichen Rache an. Es ist wunderbar, hinter die Kulissen der ganzen Produktion zu sehen. Auch wenn alles gespielt ist, wird klar, dass die Mammutproduktion viele Nerven und Tribute von allen gekostet haben muss. Wie dann das vermeintlich dokumentarische Behind-the-Scenes in eine surreale Erzählung abgleitet, zeugt nicht nur von Llinás‘ faible für das Fantastische sondern beweist mit diesem Twist auch seine Erzählkunst.
Die Schauspielerinnen konfrontieren den Regisseur in ulkigem Kostüm in der vierten Episode.
Nach den ersten vier Episoden ziehe ich eine Zwischenbilanz: «La flor» zieht das Publikum mit seiner Erzählweise, die irgendwo zwischen konventionellem Storytelling und wunderlich langgezogener Reverie à la Eliseo Subiela anzusiedeln ist, in seinen Bann.
Mit jeder Episode gewinnen die Figuren der Schauspielerinnen an Dreidimensionalität und deren Gesichter an Falten, die von den jahrelangen Dreharbeiten zeugen. Ihre Leidenschaft fürs Spiel, für das Schlüpfen in immer neue Rollen sprudelt aus dem 16:9-Format bis in mein Zimmer hinaus. «La flor» ist wunderschön anzusehen. Nicht, weil die Geschichten perfekt durchgeplant sind, oder weil die Kamera perfekt kalkulierte Bilder aufzeichnet. Die pure Passion fürs Geschichtenerzählen verfestigt sich in den Bildern, die hauptsächlich Agustín Mendilaharzu eingefangen hat. «La flor» gibt nicht vor, etwas zu sein, was er nicht ist, denn das hat der Film, anders als millionenschwere Produktionen der Filmfabrik Hollywood, die am Filmmarkt um möglichst hohe Box Office-Zahlen kämpfen, schlicht nicht nötig. «La flor» ist unprätentiös und verteidigt seinen einzigartigen Platz am Filmsternenhimmel auf verspielt sympathischer Art und Weise.
Die Sonne geht unter, eine Mütze Schlaf, ein Traum in Spanisch, die Sonne geht auf.
Mariano Llinás führt die Zuschauer durch die 14 Stunden Film. Seine Stimme verfolgt mich bis in meine Träume.
Am Dienstag schaue ich mir die beiden letzten Episoden an. Zusammen dauern diese nur knapp zwei Stunden. Da mein ganzes Bettzeug Runden in der Waschmaschine dreht, setze ich mich ins WG-Wohnzimmer, wo ich dann auch bald von meiner neuen Mitbewohnerin und ihren Zügelkompanen besucht werde.
Die fünfte Episode ist verwirrend, aber ich will hier nicht mehr verraten, als in der Synopsis zu lesen ist: Die Episode ist von einem alten französischen Film inspiriert und hat einen Anfang sowie ein Ende. Zusatzinformation: Sie bietet visuell, auditiv und stilistisch eine Abwechslung zu den vorangegangenen Episoden, nach was ich nicht unbedingt dürste, da ich die vier ersten Episoden toll gefunden habe, was aber dennoch auch schön anzusehen ist.
Die sechste Episode ist dann wohl die, die man am meisten als experimentell bezeichnen kann, rein optisch zumindest. Aber auch hier sei nicht zu viel verraten. Nur, dass es sich lohnt, den Abspann zu schauen, weil er, wie Episode drei, die Welt des Filmes und die der Arbeit, die dahintersteckt, zusammenführt.
Dann ist die Odyssee «La flor» zu Ende.
Ich klappe mein Macbook zu und weiss nicht recht, was ich machen soll. Oder wie ich mich fühlen soll. Bin ich erschöpft? Ausgelaugt? Oder doch von den Bildern energiegeladen?
Ich bin um zahlreiche Geschichten reicher, so viel kann ich sagen. Und ich bin wahnsinnig dankbar für diese Geschichten. Und äusserst bereit, Mariano Llinás, der mir die letzten Tage durchgehend fantastische Geschichten audiovisuell zugeflüstert hat, bald wieder zuzusehen und zuzuhören.
Nach 14 (aufgesplitteten) Stunden «La flor» weiss ich erstmal nicht, ob meine Augen noch normal funktionieren. Und auch nicht, was dieses blaue Tierchen auf meinem Sofa zu suchen hat.
Übrigens: Ich habe jede Sekunde, in der ich «La flor» gesehen habe, mit der Timelapse-Funktion meines iPhones aufgezeichnet. Alle Clips zusammen ergeben ein Video in der Länge von exakt 4 Minuten und 44 Sekunden, die die 14 ½ Stunden Visionierungszeit im Zeitraffer zusammenfassen. Viel Spass damit!
Das bin also ich, wie ich mir «La flor» anschaue. Manchmal sieht man, wie mein linkes Auge lustig zuckt.
Filmfakten: «La flor» / Regie: Mariano Llinás / Mit: Pilar Gamboa, Elisa Carricajo, Laura Paredes, Valeria Correa / Argentinien / 833 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Trigon-Film
Der gesamte Film «La flor» läuft im Rahmen des ¡Mira!-Festivals dieses Wochenende am Samstag, 3.8. ab 13:30 und Sonntag 4.8. ab 15:30 in chronologischer Reihenfolge im Kino Kosmos.
Infos und Tickets unter:
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