Vom irischen Studio Cartoon Saloon kommt der schönste Animationsfilm des Jahres: «Wolfwalkers» von Tomm Moore und Ross Stewart ist ein berührender und verspielter Abenteuerfilm – und nicht zuletzt ein bezauberndes Manifest für den 2D-Zeichentrickfilm.
Zehn Jahre ist es her, seit Disney mit «Winnie the Pooh» seinen letzten handgezeichneten Animationsfilm veröffentlicht hat. Kurz danach schloss das Trickfilmstudio die Pforten seiner 2D-Abteilung. Die Konkurrenz hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon längst vom traditionellen Zeichentrickfilm verabschiedet; Hollywood setzt seither geschlossen auf 3D-Animation. Anders sieht es in Europa und Asien aus, wo der handgezeichnete Trickfilm im letzten Jahrzehnt ein regelrechtes Revival erlebt hat und sich sozusagen neu erfindet – nicht zuletzt dank mutiger Filmemacher*innen und Studios. Ein solches ist Cartoon Saloon: Das kleine Animationsstudio aus Irland hat sich in den vergangenen Jahren als Garant für ebenso einzigartige wie anspruchsvolle Kost einen Namen gemacht. Und mit vier Nominationen in acht Jahren ist Cartoon Saloon auch regelmässiger Gast bei den Oscars und der Beweis, dass der 2D-Animationsfilm abseits des Mainstreams floriert.
Nun präsentiert Cartoon Saloon seinen vierten Langfilm und den Abschluss von Tomm Moores irischer Legenden-Trilogie, die mit «The Secret of Kells» (2009) und der berührenden Robbenmenschenfabel «Song of the Sea» (2014) ihren Anfang fand. «Wolfwalkers» spielt direkt vor der Haustür des Studios, in der Stadt Kilkenny, die Mitte des 17. Jahrhunderts fest in britischer Hand war – konkret in jener von Oliver Cromwell, der in der irischen Tradition und Kultur eine Bedrohung für das britische Imperium sah. Cromwell wird im Film zwar nicht namentlich genannt, doch dass die Figur des bösen Lord Protectors (gesprochen von Simon McBurney) ihm zumindest nachempfunden ist, ist nicht von der Hand zu weisen.
In Kilkenny lebt auch Robyn (gesprochen von Honor Kneafsey), die junge Tochter eines Wolfsjägers (gesprochen von Sean Bean), die nichts lieber möchte, als ihren Vater auf der Jagd zu begleiten – was dieser jedoch nicht zulässt. Als sich Robyn dennoch eines Tages wegschleicht, trifft sie in den Wäldern vor der Stadt auf die quirlige Mebh (gesprochen von Eva Whittaker), die eine «Wolfwalkerin» ist, also sich in einen Wolf verwandeln kann. Gemeinsam mit ihrer Mutter führt sie ein Wolfsrudel an und stellt sich den Menschen aus der Stadt entgegen, welche die Natur durch die Abholzung und die Bestellung des Landes immer stärker zurückdrängen. Als ihre beiden Welten aufeinanderprallen, stellen die beiden Mädchen fest, dass vieles, was sie übereinander zu wissen glaubten, falsch ist.
«Starke Frauenfiguren, magische Wälder und eine Heldin, die an der Seite von Wölfen für die Natur und gegen die Gier der Menschen kämpft – da drängt sich der Vergleich mit Hayao Miyazakis Anime-Meisterwerk ‹Princess Mononoke› auf.»
Starke Frauenfiguren, magische Wälder und eine Heldin, die an der Seite von Wölfen für die Natur und gegen die Gier der Menschen kämpft – da drängt sich der Vergleich mit Hayao Miyazakis Anime-Meisterwerk «Princess Mononoke» auf. Auch in diesem Film des japanischen Studio Ghibli, der 1997 die Animationswelt im Sturm eroberte, setzt sich eine junge Frau, die von Wölfen aufgezogen wurde, für einen respektvollen Umgang mit der Umwelt ein. Obschon sich die beiden Filme thematisch ähneln, sind sie in der Tonalität grundverschieden: Miyazaki schuf mit «Princess Mononoke» ein schonungsloses und düsteres Samurai-Epos, von dessen Brutalität und Radikalität der bezaubernde «Wolfwalkers» meilenweit entfernt ist. Soviel steht fest: Wer auf abgetrennte Gliedmassen hofft, wird in diesem Film enttäuscht.
Während das im Bezug auf seine Familientauglichkeit durchaus legitim ist, fehlt dem Film bei der Lösungsfindung die Entschlossenheit eines Miyazaki. Wenn «Die Natur muss sich eben eine neue Heimat suchen» die einzige Antwort auf einen Mensch-Umwelt-Konflikt ist, dann macht es sich ein Film schlicht zu einfach. Überhaupt: Müsste man «Wolfwalkers» eine Schwäche attestieren, wäre es das allzu konventionelle Drehbuch. Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, den Konflikt zweier Welten und das Aufbegehren gegen den von der Familie vorgesehenen Lebensentwurf – all das sind Themen, die, gerade im Animationsfilm, schon zuhauf behandelt wurden, und denen Moore, Stewart und Drehbuchautor Will Collins nur wenig Neues abgewinnen können.
Mit seinen schlichten Linien, den abstrakten Kompositionen und den sich dadurch eröffnenden, wundervollen Welten zieht einen «Wolfwalkers» aber dennoch schnell in seinen Bann. Die Regisseure perfektionieren in ihrem Film den einzigartigen Cartoon-Saloon-Stil und spielen gekonnt damit: Während die Menschenwelt mit klaren und harten Strichen und zahlreichen Ecken und Kanten gezeichnet wird, und auch die Animation sehr klobig daherkommt, zeichnet sich die Natur durch einen suchenden Strich, weiche Formen und dynamische Bewegungen aus. Zwischen diesen beiden Polen steht Robyn, die nicht nur im Rollenbild einer jungen Frau gefangen ist, sondern sich nach und nach auch der Menschenwelt nicht mehr zugehörig fühlt. Diese Zerrissenheit wird visuell gekonnt eingefangen: Unter der klobigen, abweisenden Kapuze der Wolfsjägerin in spe steckt eine mit sanften Strichen gezeichnete, naturverbundene Heldin.
«Mit ‹Wolfwalkers› festigt Cartoon Saloon seine Vormachtsstellung unter den Independent-Trickfilmstudios nachhaltig. Auch der vierte Film des Studios ist – trotz eines zahmen Drehbuchs – eine Wucht.»
Mit «Wolfwalkers» festigt Cartoon Saloon seine Vormachtsstellung unter den Independent-Trickfilmstudios nachhaltig. Auch der vierte Film des Studios ist – trotz eines zahmen Drehbuchs – eine Wucht. Die irischen Überflieger um Tomm Moore schaffen einen technisch überragenden und wunderschönen Abenteuerfilm, der allen Disneys und Dreamworks dieser Welt ein für allemal klarmachen dürfte: Handgezeichneter Animationsfilm lebt.
Über «Wolfwalkers» wird auch in Folge 16 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Filmfakten: «Wolfwalkers» / Regie: Tomm Moore, Ross Stewart / Mit: Honor Kneafsey, Eva Whittaker, Sean Bean, Simon McBurney, Maria Doyle Kennedy / Irland, Luxemburg, USA, Grossbritannien, Frankreich / 103 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2021 Apple Inc. All rights reserved.
Ein bezaubernder Animationsfilm aus Irland, dessen wunderbare Welten und charismatischen Figuren problemlos über kleinere erzählerische Unzulänglichkeiten hinwegtrösten.
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