Man kennt Laura Poitras vor allem für ihre investigativ-journalistischen Dokumentarfilme über brisante Figuren wie Edward Snowden und Julian Assange. Das Künstlerinnenporträt «All the Beauty and the Bloodshed» über die Fotografin Nan Goldin mag im Vergleich formal konventionell wirken, legt aber ebenso viel politische Schlagkraft an den Tag.
Im oscarprämierten «Citizenfour» (2014) verbrachte Filmemacherin Laura Poitras schicksalhafte Stunden mit NSA-Whistleblower Edward Snowden in einem Hongkonger Hotelzimmer, nachdem dessen Datenleaks die Welt in Aufregung versetzt hatten. In «Risk» (2016) fühlte sie dem widersprüchlichen Aktivisten Julian Assange auf den Zahn und stellte sich zugleich ihrer eigenen Desillusionierung mit dem WikiLeaks-Gründer.
Auf derart spektakuläre Stunts lässt sich «All the Beauty and the Bloodshed» nicht ein. Poitras‘ Film vermittelt in ziemlich klassischer Form die Biografie der US-Fotokünstlerin Nan Goldin: Archivbilder, Zeitzeug*innen-Interviews, ausgewählte Werke und Filmaufnahmen von Demonstrationen erzählen von einer neugierigen und aufgeschlossenen Frau, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zusammen mit ihrer Schwester gegen die erstickenden Verhältnisse im eigenen Elternhaus rebelliert, in der New Yorker Queer-Szene der Siebziger- und Achtzigerjahre Freund*innen und Heimat findet, die verheerende AIDS-Pandemie aus nächster Nähe miterlebt und in den 2010er Jahren fast selber ein Opfer der Opioidkrise wird.
«Poitras‘ Film vermittelt in ziemlich klassischer Form die Biografie der US-Fotokünstlerin Nan Goldin. Hinter dieser konventionellen Fassade verbirgt sich eine hochgradig aktuelle Auseinandersetzung mit der politischen Dimension von Kunst.»
Doch hinter dieser konventionellen Fassade verbirgt sich eine hochgradig aktuelle Auseinandersetzung mit der politischen Dimension von Kunst. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem immer wieder vor der «Politisierung» der Kunst gewarnt wird, erinnert «All the Beauty and the Bloodshed» daran, dass die beiden Sphären untrennbar miteinander verbunden sind.
Als sich vor rund 40 Jahren das HIV-Virus in der LGBTQ+-Community auszubreiten begann, hatte die Politik wenig Interesse daran, den betroffenen Menschen zu helfen, und widmete sich stattdessen dem Befeuern queerphober Vorurteile. Also lag es an der Kunst, sich gegen diese Strategie des Totschweigens zu wehren – und Nan Goldins Bilder aus dieser Zeit sind in genau diesem Kontext zu verstehen: Werke wie ihre wegweisende Slideshow «The Ballad of Sexual Dependency» (1985), in der sie autobiografische Einschläge mit ihren Erfahrungen in den queer geprägten New Yorker Underground- und Heroin-Szenen vermischte, machten Menschen sichtbar, welche die Gesellschaft nicht sehen wollte.
Doch auch in der in den USA grassierenden Opioid-Epidemie sind Kunst und Politik ineinander verzahnt: Die Sackler-Familie – die Dynastie hinter Purdue Pharma, dem «Architekten» der Epidemie – geriert sich schon seit Jahrzehnten als Kunstmäzenin; etliche Museumsflügel, vom Louvre bis zum Guggenheim, tragen den Sackler-Namen und waschen ihn dadurch rein.
Das heisst, sie trugen ihn – denn Goldin gründete 2017 die Gruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), die es sich zur Aufgabe machte, mit aufsehenerregenden, flashmobartigen Protestaktionen in Museen gegen die Sackler’sche Schirmherrschafts-Intrige zu demonstrieren, und seither diverse Erfolge verzeichnen konnte. Kunst kann Aktivismus sein – doch wenn Kunst zum Machtinstrument wird, dann muss die Künstlerin zur offensiven Aktivistin werden.
«Indem Poitras so die assoziative Struktur einer Goldin-Slideshow imitiert, wird das Publikum zur selbstständigen Reflexion animiert. Und das ist die Basis jedes Kunstwerks und jedes politischen Engagements.»
Man könnte monieren, dass Poitras diese beiden Aspekte von Nan Goldins Werk nicht abschliessend zusammenführt – dass AIDS und Opioidkrise, Vergangenheit und Gegenwart bis zuletzt eigenständige Erzählstränge bleiben. Doch auch das ist eine Stärke von «All the Beauty and the Bloodshed»: Indem Poitras so die assoziative Struktur einer Goldin-Slideshow imitiert, wird das Publikum zur selbstständigen Reflexion animiert. Und das ist die Basis jedes Kunstwerks und jedes politischen Engagements.
Über «All the Beauty and the Bloodshed» wird auch in Folge 58 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 27.4.2023
Filmfakten: «All the Beauty and the Bloodshed» / Regie: Laura Poitras / Mit: Nan Goldin / USA / 113 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
Laura Poitras überzeugt im konventionellen Erzählstil fast noch mehr als sonst: In «All the Beauty and the Bloodshed» wird ein Porträt von Nan Goldin zu einem Plädoyer für politische Kunst.
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