Erste Liebe, erster Job, erste Knarre: In vielerlei Hinsicht erzählt Claudio Giovannesis «La paranza dei bambini» einmal mehr die bekannte Mafia-Geschichte vom Aufstieg und drohenden Untergang junger Männer, kombiniert diese allerdings mit den zarteren Untertönen eines Coming-of-Age-Films. Das Resultat könnte unkonventioneller sein, besticht aber mit talentierten Laiendarsteller*innen und atmosphärischer Intensität.
Das aktuelle italienische Kino – Erbe trister neorealistischer Werke wie «Ladri di biciclette» (1948) – situiert sich weitab von jenen kulinarisch-kulturellen Ausflügen, spirituellen Selbstfindungstrips und goldenen Sommern, von denen Hollywood so oft mit Genuss erzählt. Jüngst blickte so zum Beispiel Regisseur Matteo Garrone in «Gomorra» (2008) und «Dogman» (2018) mit deprimierender Schärfe in die Abgründe eines Landes, in dem Armut, Perspektivlosigkeit und (Klein-)Kriminalität den Alltag einer sozialen Schicht dominieren, die von friedlichen Badeferien und unbeschwertem Sonnenschein nur träumen kann.
Die starken Parallelen zwischen «La paranza dei bambini» und dem Mafia-Drama «Gomorra» sind nicht zufällig: Beides sind Buchadaptionen, die der Feder des Autors und Journalisten Roberto Saviano entstammen (welcher für «Paranza» auch das Drehbuch mitverfasste); beide zeichnen Neapel mit viel bedrückendem Realismus als eine Stadt, in der Individuen in der Mafia’schen Maschinerie von Gewalt, Kriminalität und Schutzgeldern eingespannt sind.
In «Paranza» sind es nun die Kinder, welche die Macht an sich reissen und im unentrinnbaren Strudel von Habgier und Gewalt versinken: Bereits in den ersten eindringlichen Aufnahmen, in denen eine Bande von Jungs einen riesigen Weihnachtsbaum verbrennt, den sie aus dem nahen Einkaufszentrum gestohlen haben, wird klar, dass man in diesem Film dem langsamen Zerfall der Unschuld beiwohnt.
Im Zentrum der Geschichte steht der 15-jährige Nicola (Francesco Di Napoli), der – in der für dieses Alter typischen Dringlichkeit – alles auf einmal möchte: eine hübsche Freundin, den Respekt der Erwachsenen, die teuersten Markenkleider. Dazu ist er ein gewissenhafter Sohn, der nicht mitansehen möchte, wie seine Mutter das Geld, das sie in harter Arbeit in ihrer Wäscherei verdient, immer wieder zwielichtigen Schutzgeldeintreibern aushändigen muss. In Neapel, so scheint es, gibt es nur einen effektiven Weg, um alle diese Wünsche sofort in Erfüllung gehen zu lassen: Sobald die richtigen Kontakte zu den lokalen Gangstern hergestellt sind, eröffnet sich Nicola und seinen Freunden ein geradliniger Pfad in die Kriminalität.
Besonders spannend sind an «La paranza dei bambini» deshalb vor allem die kleinen, intimen Momente, die mithilfe der starken Laiendarsteller*innen zeitweise subtil die bekannten Mechaniken unterwandern
Die Moralfabel vom Verlust der Unschuld in den Sümpfen der Mafia ist weitgehend bekannt und wird auch hier nur wenig verändert: Blauäugig und enthusiastisch beginnt die Jugend ihren Weg in den Abgrund, grösser und grösser werden die Opfer – bis zum bitteren Ende. Besonders spannend sind an «La paranza dei bambini» deshalb vor allem die kleinen, intimen Momente, die mithilfe der starken Laiendarsteller*innen (darunter Viviana Aprea und Pasquale Marotta) zeitweise subtil die bekannten Mechaniken unterwandern und Fragen zu performativer Gewalt, Klasse und Männlichkeit stellen: Momente, in denen die Jungs enthusiastisch Selfies mit ihren neuen Waffen schiessen, in denen sie sich lachend in den Armen liegen oder die teuren Shirts in einem Markengeschäft überstreifen – oder die Szene, in der Nicola sein Gesicht von Lippenstift und Mascara säubert.
Es sind fragmentarische Antworten, die der Film auf die Frage bereithält, was die Gruppe von Jugendlichen auf ihrem Weg wohl antreibt oder motiviert. Auch wenn der Film letztendlich mehr Interesse an den altbewährten Mafia-Tropen und einer eher oberflächlichen Liebesgeschichte mit Romeo-und-Julia-Einschlägen hat, bleibt er ein solider, atmosphärischer Genre-Eintrag mit starken Bildern und subversivem Potenzial.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.8.2019
Filmfakten: «La paranza dei bambini» / Regie: Claudio Giovannesi / Mit: Francesco Di Napoli, Viviana Aprea, Mattia Piano Del Balzo, Circo Cecchione, Alfredo Turitto, Pasquale Marotta / Italien / 105 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Die Geschiche vom Spinnennetz der Mafia ist schon viele Male erzählt worden. Dennoch vermögen die Laiendarsteller*innen und die subtilen Untertöne zu fesseln.
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