Verleugnung, Wut, Depression, Verhandlung und Akzeptanz. Die verschiedenen Phasen, die krebskranke Menschen intuitiv durchlaufen, werden auch vom 39-jährigen Benjamin durchlebt, nachdem er mit der endgültigen Diagnose konfrontiert wird und eine lindernde Chemotherapie zynisch ablehnt. Seine überfürsorgliche Mutter will nicht so schnell aufgeben; denn es ist nicht vorgesehen, dass das eigene Kind vor einem stirbt. In «De son vivant» macht Emmanuelle Bercot das Sterben beeindruckend und einfühlsam sichtbar, indem sie ihren Protagonist*innen die Zeit gibt, verteilt über den Lauf der vier Jahreszeiten, sich dieser Wahrheit zu stellen und Frieden zu schliessen.
Das Thema Krebs wurde schon in unzähligen Filmen und Büchern auf unterschiedlichste Weise be- und aufgearbeitet. Die Herangehensweisen sind dramatisch, traurig, manchmal auch komisch. Aber eines haben diese Erzählungen gemeinsam. Der Held oder die Heldin stirbt am Ende. Nun wurde der Krebs wieder für ein Melodram bemüht, doch vielleicht ist es gerade dieser Ansatz, der «De son vivant» von Emmanuelle Bercot («Polisse») so besonders macht: Die Sterbenden sind hier die Helden auf dem Weg in den Tod.
Benjamin (Benoît Magimel), nach eigener Angabe ein gescheiterter Schauspieler, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Krebserkrankung nicht heilbar ist und er statistisch gesehen noch sechs bis zwölf Monate Zeit hat – wobei es auch in dieser Statistik die bekannten «Ausreisser» gibt, wie ihm der Onkologe Dr. Eddé (Gabriel Sara) zu vermitteln versucht: Benjamin könnte auch weniger als sechs Monate am Leben bleiben oder länger als zwölf.
Viel Lebenszeit ist bereits verloren gegangen, da Benjamin den Krebs ignoriert hat und auch seiner Mutter Crystal (Catherine Deneuve) sich der Realität verschliesst. Dr. Eddé scheint nur eine weitere Möglichkeit auf der Suche nach Heilung zu sein, doch dieser hat sich der Wahrheit verschrieben und der Aufgabe, seine Patient*innen ehrlich, empathisch und unterstützend zu betreuen, sei es bis zur Heilung oder bis zum Tod.
Benjamin zögert, seine Mutter sucht nach Antworten, während er als Schauspiellehrer in den Unterricht zurückkehrt und seine Schüler*innen einen innigen letzten Abschiedskuss spielen lässt. Szenen eines definitiven Abschieds, darüber nachdenken, was man dabei fühlt, betrachtet aus der Perspektive eines todkranken Mannes, der anfängt, sich leise und heimlich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.
Doch nicht nur Benjamin muss sich auf den Weg machen, sein Schicksal zu akzeptieren, sondern auch Crystal. «Es ist mein Krebs, nicht deiner», erwidert er energisch, als sie nach einer alternativen Behandlungssitzung in einer Sauerstoffdruckkammer über weitere Möglichkeiten nachdenkt, was «wir» noch tun könnten. Und trotzdem ist es doch auch ihr Kampf, dem Tod des einzigen Sohnes entgegenzublicken.
«Es bleibt bei der Intimität zwischen krankem Sohn und gesunder Mutter; sie sind zusammen, und dennoch ganz allein. Dieses Zusammenspiel kann seine Tiefe umso mehr entfalten, weil es so gut wie keine Nebenschauplätze gibt.»
Diese Dynamiken zeichnen die Dramaturgie im Drehbuch von Bercot und Marcia Romano aus: Es gibt im Film kein Leben um Benjamin und Crystal. Es bleibt bei der Intimität zwischen krankem Sohn und gesunder Mutter; sie sind zusammen, und dennoch ganz allein. Dieses Zusammenspiel kann seine Tiefe umso mehr entfalten, weil es so gut wie keine Nebenschauplätze gibt.
«De son vivant», im Zyklus der vier Jahreszeiten erzählt, beginnt im Sommer mit der ersten Begegnung zwischen Benjamin, Dr. Eddé und dessen stiller Assistentin Eugénie (Cécile de France), deren Empathie für Benjamin in ein fast unsichtbares Band der Liebe übergeht. Ab dem Herbst bleibt Benjamin im Krankenhaus, nachdem er bei einer Theaterprobe zu sehr in die Darstellung eines Schauspielschülers hineinsteigert, als wollte er diesem jungen Mann noch essenzielle Informationen mit auf seinen Lebensweg geben, während ihm selbst die Zeit davonläuft.
Eine der Schlüsselszenen ist denn auch Dr. Eddés Bitte an Benjamin, er solle damit anfangen, seinen «Schreibtisch» aufzuräumen. Dazu gehört auch ein Sohn, Léandre (Oscar Morgan), den er nicht kennt, nie anerkannt hat, aber dem er nun alles hinterlassen will, was er besitzt.
Während Benjamin im Winter mit dem Anwalt alles regelt, damit sein Sohn im Testament berücksichtigt wird, steht Crystal im Theater vor den Schauspielschüler*innen und erklärt ihnen, dass sie ihren Lehrmeister besuchen können, sobald es ihm besser geht. Es sind erdrückende Szenen einer Mutter, deren grösster Liebesbeweis an ihr Kind sein wird, zu akzeptieren, was es selber schon längst akzeptiert hat.
Für Catherine Deneuve («Belle de Jour », «Elle s’en va») ist «De son vivant» schon die dritte Regiearbeit mit Emmanuelle Bercot; und auch mit Benoît Magimel («La Pianiste») stand sie für Bercot bereits vor der Kamera, als sie in «La Tête haute» (2015) als Jugendrichterin auf Magimels Sozialarbeiter Yann traf. Auch damals ging es darum, ein Kind zu verlieren und verzeihen zu können.
Daraus entstand Bercots Idee, gemeinsam mit Romano ein weiteres Drehbuch für diese beiden grossartigen Darsteller*innen zu entwickeln. Bercots persönliche Erfahrung, geliebte Menschen an eine Krebserkrankung zu verlieren, brachte sie wiederum in Kontakt mit Dr. Gabriel Sara, einem Onkologen, der sie nach einer Vorführung von «La Tête haute» in New York in ein Gespräch verwickelte.
Bercot durfte in seinem Krankenhaus hospitieren und erlebte neben der alltäglichen Praxis in der Onkologie auch mit, welchen Ansatz Sara in der Betreuung und Begleitung seiner Patient*innen und deren Angehöriger verfolgt, und wie Musik und sinnlicher Tango die Krankenzimmer bereichern und die Chemotherapien erträglicher machen.
«‹De son vivant› hat wichtige Fragen über Leben und Tod aufgegriffen und aufgezeigt, wie es sein könnte, Menschen professionell und empathisch auf ihren Weg zum Sterben zu begleiten – und dabei auch ihre nächsten Angehörigen aufzufangen und mitzunehmen.»
Es ist geradezu folgerichtig, dass Sara die gewichtige Rolle des Dr. Eddé in «De son vivant» gleich selbst übernimmt und seine eigenen Dialoge, die er im Spitalalltag erlebt, auf den Film überträgt. Fast alle Darstellenden im Film-Krankenhaus sind auch im wirklichen Leben im Pflegeberuf und im therapeutischen Bereich tätig. Für Bercot und Sara war es wichtig, die Authentizität der Protagonist*innen im Spital anhand ihrer Blicke, Gesten und Bewegungen möglichst realistisch wiederzugeben und nicht fiktiv zu erschaffen.
Dieser Ansatz ist in der Tat gut gemeint und auch gelungen. Es stellt sich dabei nur die Frage, warum es nicht möglich gewesen wäre, Schauspieler*innen zu finden, welche die Alltagszenen in einem Krankenhaus ebenso überzeugend hätten spielen können wie die Schauspielschüler*innen die dramatische Abschiedsszene. Und auch der intime Abschiedskuss und die Zärtlichkeiten zwischen Benjamin und Eugénie erfüllen ihren Zweck, obschon die beiden weder Patient noch Pflegefachfrau sind.
Von diesen nicht restlos geklärten Casting-Stunts abgesehen, hat Emmanuelle Bercot mit «De son vivant» jedoch wichtige Fragen über Leben und Tod aufgegriffen und aufgezeigt, wie es sein könnte, Menschen professionell und empathisch auf ihren Weg zum Sterben zu begleiten – und dabei auch ihre nächsten Angehörigen aufzufangen und mitzunehmen. Der Film zeigt aber zugleich eindrücklich auf, dass niemand davor gefeit ist, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Sei es in einem lichtdurchfluteten Krankenzimmer mit Live-Gitarrenbegleitung und aufmerksamem Pflegepersonal, oder allein mit einem unaufgeräumten «Lebensschreibtisch».
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Kinostart Deutschschweiz: 10.2.2022
Filmfakten: «De son vivant» / Regie: Emmanuelle Bercot / Mit: Benoît Magimel, Catherine Deneuve, Gabriel Sara, Cécile de France, Oscar Morgan / Frankreich / 120 Minuten
Bild-und Trailerquelle: Frenetic Films AG
Verzeih mir. Ich verzeihe dir. Ich liebe dich. Danke. In Emmanuelle Bercots «De son vivant» wird auf empathische Weise der Schreibtisch des Lebens aufgeräumt. Traurig, aber sehenswert.
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