Seit den 1950er Jahren leben Hanni Isler, Rosa Zehnder und Kurt Schäfli in ihren Wohnungen in Zürich-Leimbach. Hier haben sie ihre Kinder grossgezogen und hier wollen sie ihren Lebensabend verbringen. Doch nun sollen ihre Häuser abgerissen werden und lukrativeren Bauvorhaben weichen. In «Kleine Heimat» begleitet Filmemacher Hans Haldimann seine drei Hauptfiguren von der Kündigung bis zum Umzug.
Hanni Isler, 92, erinnert sich an den Umzug ins «Paradies» 1957, an ihr Leben als alleinerziehende, arbeitende Mutter von drei Kindern, denkt an die freundliche Beziehung zur Nachbarschaft mit Wehmut zurück, und erklimmt den Hügel zu «ihrem» Bänkli mit der schönen Aussicht so zügig, dass Regisseur Hans Haldimann, 68, mit seiner Handkamera kaum hinterherkommt. Die rüstige Frau ist manchmal traurig, dass sie nicht in ihrer Wohnung bleiben kann, aber beklagt hat sie sich nie.
Auch Rosa Zehnder, 91, die ihre vier Söhne auf 60 Quadratmetern aufgezogen hat und nach einigen Schicksalsschlägen im heute 82-jährigen Kurt Schäfli einen Lebenspartner gefunden hat, beklagt sich nicht. Kurt hat im Laufe der Jahre die Führung im Haushalt übernommen, da Rösli nach einem Schlaganfall motorisch beeinträchtigt ist. Beide blicken zuversichtlich in die Zukunft, lachen viel und wissen, dass sie auch in der neuen Wohnung zusammen sein werden.
«Das Porträt einer erfahrungsreichen Generation, die sich nicht wehrt und die Gegebenheiten hinnimmt, berührt und reibt zugleich auf.»
Haldimann wurde über das «Tagblatt der Stadt Zürich» auf die Siedlung in Leimbach, am südlichen Stadtrand von Zürich, aufmerksam. Dort werden wöchentlich die geplanten Bauvorhaben ausgeschrieben. Seine «Portion Wochenenddepression» nennt er das. Über drei Jahre begleitete er die drei Hauptfiguren, von der Kündigung bis zum Umzug. Sie erzählen in «Kleine Heimat» aus ihrem Leben, von Glücksmomenten und Schicksalsschlägen, blicken mal wehmütig zurück, mal sorgenvoll in die Zukunft. Das daraus entstandene Porträt einer erfahrungsreichen Generation, die sich nicht wehrt und die Gegebenheiten hinnimmt, berührt und reibt zugleich auf.
Die Siedlung mit den 70 Wohnungen aus den Vierzigerjahren am Rande der Autobahn wurde für viele Menschen zur Heimat. Die Frage, ob vertriebene Bewohner*innen ein neues Zuhause finden, beschäftigt Haldimann indes schon seit über 40 Jahren: Als Lokaljournalist schrieb er die Geschichten dieser kontinuierlichen Stadtentwicklung viele Jahre lang auf, da die Freiheit in diesem Land auch immer bedeutet, dass die einen die Freiheit haben, die anderen zum Weggehen zu zwingen. Die Geschichten der vertriebenen Mieter sind laut Haldimann etwas in den Hintergrund gerückt, da andere Themen und Filmprojekte wichtiger wurden.
Schon seine vorangegangenen, im Vier-Jahres-Rhythmus erschienenen Dokumentarfilme «Bergauf, bergab» (2008), «Weiterleben» (2012) und «Einfach leben» (2016) handelten von Heimat, Heimatverlust und seelischer Heimat. Denn Heimat bedeutet auch Sicherheit. Mit seinem vierten abendfüllenden Werk «Kleine Heimat» schliesst sich dieser thematische Kreis, inspiriert durch den Bauboom, der seit Jahren die Schweizer Städte und Agglomeration erfasst. Das Stichwort «Verdichtung» erhält ein scharf umrissenes Gesicht, wenn 75-jährige Wohnsiedlungen mit «unnötig» viel Grünfläche zwischen den Häusern durch grössere, luxuriösere und teurere Bauten ersetzt werden anstatt sie zu sanieren und günstigen Wohnraum zu erhalten.
«Haldimann lässt die Hauptfiguren erzählen, fängt ihre Geschichten diskret und sensibel ein und kommentiert nicht. Dazwischen erlebt man die wuchtigen Bilder der Zerstörung von Möbeln, das Ausreissen der Bäume, das Abreissen der Häuser.»
Haldimann lässt die Hauptfiguren erzählen, fängt ihre Geschichten diskret und sensibel ein und kommentiert nicht. Dazwischen erlebt man die wuchtigen Bilder der Zerstörung von Möbeln, das Ausreissen der Bäume, das Abreissen der Häuser. Untermalt von einer immer wieder überwältigenden Geräuschkulisse, getaktet von der Montage von Mirjam Krakenberger, die aus über 1’000 Stunden Filmmaterial die Zusammenhänge herstellte, und abgerundet von der emotionalen Musik von Linda Vogel, laufen einem hier immer wieder kalte Schauer den Rücken hinunter. Man fragt sich unweigerlich, wie lange man selbst noch in seinem Zuhause bleiben darf.
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Kinostart Deutschschweiz: 10.6.2021
Filmfakten: «Kleine Heimat» / Regie: Hans Haldimann / Mit: Hanni Isler, Rosa Zehnder, Kurt Schäfli / Schweiz / 95 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
«Kleine Heimat» thematisiert die Folgen der städtischen Raumplanung und Verdichtung in einfühlsamen Bildern, die wütend und traurig zugleich machen.
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