«Eines Tages möchte ich ein Kind haben, aber nicht anstatt eines eigenen Lebens», sagt die Literaturstudentin Annie in «L’événement» zu ihrem Hausarzt, der sie zwar versteht, ihr mit ihren Ambitionen, ein besseres, freieres und selbstbestimmteres Leben als ihre Eltern zu führen, aber trotzdem nicht helfen kann, ohne sich strafbar zu machen. Und somit bleibt Anne mit «ihrem Problem» völlig allein – im Frankreich der Sechzigerjahre, wo patriarchale Gesetze über das Schicksal einer «unvernünftig» schwangeren Frau entscheiden.
Seither ist viel passiert; an vielen Orten auf der ganzen Welt wurden die Gesetze ab den Siebzigerjahren zugunsten der Frauen geändert. Scheinbar zumindest – denn die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass im Rahmen neuer Gesetzgebungen, etwa in Polen oder Texas, das Recht auf Abtreibung wieder eingeschränkt wird, was wiederum die Selbstbestimmung der Frauen untergräbt: Wer eine Abtreibung will, wird wieder in die Illegalität gedrängt, wo Strafe einerseits und gesundheitliche Gefahren andererseits drohen.
In «L’événement» von Audrey Diwan wird Annie (Anamaria Vartolomei), einer begabte Studentin der Literaturwissenschaft, die zwar kühl und unnahbar wirkt, aber gegenüber sexuellen Erfahrungen auch nicht abgeneigt ist, unglücklicherweise schwanger. Nach dem Ausbleiben der Periode «diagnostiziert» ihr Hausarzt (François Loriquet) eine Schwangerschaft und gibt ihr im gleichen Moment auch zu verstehen, dass sie das so zu akzeptieren hat, weil es keine Alternativen gibt. Annies Einwand, dass sie «jetzt» kein Kind haben kann, wird vom Arzt sofort abgewiesen: nicht, weil er die 20-Jährige beschämen möchte, sondern weil an die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs gar nicht erst zu denken ist. Er will «dieses Wort» nicht einmal in den Mund nehmen und kann ihr daher auch keine weitere Unterstützung anbieten.
«In ‹L’événement› von Audrey Diwan wird Annie, einer begabte Studentin der Literaturwissenschaft, die zwar kühl und unnahbar wirkt, aber gegenüber sexuellen Erfahrungen auch nicht abgeneigt ist, unglücklicherweise schwanger.»
Annie konsultiert einen anderen Arzt. Auch er verweigert sich dem Wort, verschreibt ihr aber schliesslich ein Medikament, das sie sich unter die Haut spritzen soll, damit ihre Periode wieder einsetzt. Im Nachhinein stellt sich jedoch heraus, dass diese Medizin nicht der Förderung des Aborts dient, sondern dazu, den Embryo zu stärken.
Annies Studienkollegin und beste Freundin Brigitte (Louise Orry-Diquéro) ihr und Hélène (Luàna Bajrami) stolz vor, was sie heimlicherweise in den Pornoheftchen ihres Bruders gelernt hat: das Reiten auf einem Kopfkissen, bis sie zum Höhepunkt kommt, die absolute Befriedigung ohne männliche Hilfe, die in der sittenstrengen Provinz ohnehin nur zu Problemen führen würde. Denn entweder folgt eine Schwangerschaft, die in Heirat und Haushalt endet, oder die Frau gilt als «Schlampe», mit oder ohne unehelichem Kind. Doch genau Brigitte ist es, die sich, als sie mit Annies Bredouille konfrontiert wird, entsetzt von ihr abwendet und von Hélène verlangt, es ihr gleichzutun: «Damit bist du jetzt allein»
Zunehmend ist Annie isoliert; ihre Leistungen nehmen ab, da sie nur noch als Schatten ihrer selbst im Hörsaal sitzt. Es ist bedrückend, zuzusehen, wie sie nicht sprechen kann, fast daran zerbricht, und trotzdem entschlossen ist, dieses Kind nicht zu bekommen. Der Professor (Pio Marmaï) nimmt sie zur Seite, weil er sich Sorgen macht, dass sie die Prüfungen nicht schafft; selbst ihre stoische Mutter (Sandrine Bonnaire) wirkt besorgt; doch Annie schweigt. Und dieses erzwungene Schweigen schmerzt beim Zuschauen fast mehr als Annies Versuch, die Schwangerschaft mit einer Stricknadel zu beenden.
«Dieses erzwungene Schweigen schmerzt beim Zuschauen fast mehr als Annies Versuch, die Schwangerschaft mit einer Stricknadel zu beenden.»
Szene für Szene wird Annies aktuelle Schwangerschaftswoche eingeblendet: Die Zeit vergeht alarmierend schnell; nicht nur die Verzweiflung wächst, sondern auch ihr Bauch. Sie fährt nach Bordeaux, doch der junge Mann, der sie geschwängert hat, ist eher daran interessiert, Sex mit ihr zu haben – jetzt, da ja nichts mehr passieren kann –, als ihr zu helfen. Überstürzt fährt sie zurück und erhält vom Kommilitonen Jean (Kacey Mottet Klein) einen Kontakt; eine Frau erklärt ihr beim heimlichen Treffen, dass sie, wenn es zu Komplikationen kommt, die Wahl hat, zu sterben oder nach einem Krankenhausaufenthalt im Gefängnis zu landen.
Woche 12: Die illegale Prozedur ist eine Tortour, aber schreien darf sie nicht. Die Wände sind wie aus Papier. Die Szene wirkt wie eine Nahtoderfahrung; die Kamera ist von hinten auf Annie gerichtet, die sich vor Schmerzen kaum noch halten kann, und richtet den Blick durch ihre zitternden gespreizten Beine auf die Frau, die «das Ereignis» beenden soll.
«Angst, Panik, Schmerz, Verzweiflung – jeder Blick, präzise von Laurent Tangys Kamera festgehalten, erzählt eine tragische Geschichte, die Dialoge überflüssig werden lässt.»
Anamaria Vartolomeis Schauspiel ist beeindruckend: Sie spricht nicht mit ihrer Stimme, sie tut es vielmehr mit den Augen. Angst, Panik, Schmerz, Verzweiflung – jeder Blick, präzise von Laurent Tangys Kamera festgehalten, erzählt eine tragische Geschichte, die Dialoge überflüssig werden lässt.
Abgesehen von einigen Elementen, die auf die 1960er Jahre hindeuten – eine Telefonzelle, eine Küche, die Musik in der Dorfdisco –, scheinen die Protagonist*innen mit ihren Kleidern und Frisuren eher in der Jetztzeit zu Hause zu sein. Ein kluger Schachzug von Audrey Diwan, denn er deutet darauf hin, dass diese Art der Untergrabung von Frauenrechten ein Thema ist, das die Zeit überdauert hat und somit wieder brandaktuell ist.
Das Drehbuch von Diwan, Marcia Romano und Anne Berest basiert auch auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman der Schriftstellerin Annie Ernaux aus dem Jahr 2000. Der Titel ist denn auch bewusst gewählt: Das zentrale «Ereignis» teilt Annies Leben auf in ein «Vorher» und ein «Nachher». Das Aufzeigen der verrinnenden Wochen erhöht die Spannung und verwandelt Annies Leidensweg fast in einen Psychothriller.
«‹L’événement› äussert sich nicht direkt politisch, zeigt aber schonungslos auf was passiert, wenn eine Frau ungewollt schwanger wird, aber selbst nicht entscheiden darf, ob sie das überhaupt will.»
«L’événement» äussert sich nicht direkt politisch, zeigt aber schonungslos auf was passiert, wenn eine Frau ungewollt schwanger wird, aber selbst nicht entscheiden darf, ob sie das überhaupt will. Es ist, in Annies Worten, «eine Krankheit, die nur Frauen befällt» – und damit tatsächlich hochgradig politisch.
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Kinostart Deutschschweiz: 24.3.2022
Filmfakten: «L’èvénement» / Regie: Audrey Diwan Mit: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Louise Orry-Diquéro, Luàna Bajrami, Sandrine Bonnaire, Pio Marmaï, François Loriquet / Frankreich / 100 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic
In «L’événement» versucht eine Studentin in den Sechzigerjahren, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich gegen ein Kind zu entscheiden. Audrey Diwans Drama ist hochsensibel und spannend.
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