Wenn ein regierungskritischer russischer Drehbuchautor und Regisseur wegen ebenso kritischer Filme im Hausarrest sitzt, anstatt seine Erfolge in Cannes zu feiern, dann könnte ein solcher Mann auf die Idee kommen, die Zeit mit dem Schreiben eines neuen Drehbuchs zu verkürzen, was die Regierung erneut vergrämen und zu weiteren Strafen animieren wird. Aber diese Aussicht scheint Kirill Serebrennikov nicht davon abgehalten zu haben, in «Petrov’s Flu» einmal mehr aufzuzeigen, dass Russlands postsowjetische Ära von Armut und Gewalt geprägt ist – und, wie der Titel schon verrät, eine Grippewelle das Leben nicht einfacher macht.
Der Cartoonist Petrov (Semyon Serzin) steigt in einen vollbesetzten Autobus: Fast im Fieberdelirium rotzt, hustet und niest er sich durch die Reihen, um einen Sitzplatz zu finden. Die gehässigen Fahrgäste empören sich über Gorbatschow und Yeltsin und dass früher alles besser war, beleidigen sich gegenseitig und belästigen andere Personen. Da hilft es auch nicht, dass die Kondukteurin mehrere von ihnen aus dem Bus schmeisst und Petrov von der Geheimpolizei eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt bekommt, um an der Exekution einiger Gefangener teilzunehmen, die an der Wand neben dem Bus aufgereiht sind. War das real oder ein Fiebertraum?
«Der Mann verlässt das Haus, um Zigaretten zu kaufen und kommt erst nach drei Tagen wieder zurück, weil er irgendwo auf einen Igor trifft, der mit ihm den halben Lohn versäuft.»
Die Szene wechselt abrupt: Petrov sitzt mit Igor (Yuri Kolokolnikov) in einem Leichenwagen, in dem die Toten im Sarg nicht immer ganz tot zu sein scheinen. Im Grunde möchte Petrov nur nach Hause, aber wie es eben so ist in Russland, und das beklagen auch die Frauen eines Kinderfestes zur Weihnachts- oder Neujahrszeit: «Der Mann verlässt das Haus, um Zigaretten zu kaufen und kommt erst nach drei Tagen wieder zurück, weil er irgendwo auf einen Igor trifft, der mit ihm den halben Lohn versäuft».
Petrovs Noch-Ehefrau Petrova (Chulpan Khamatova), eine Bibliothekarin, übt indes gedanklich Vergeltung an den Mitgliedern des lokalen Leseklubs – doch dieser geheime Zorn wird blutige Realität, als sie einen unwürdigen Kunden verfolgt und ersticht, oder Sex im Büro mit einem Unbekannten hat und danach mit pechschwarzen Augen ihrem Sohn die Kehle durchschneidet. Doch das ist nur Fantasie, genauso wie all die Rückblenden in Petrovs Kindheit, als weihnachtliche Kinderfeste mit der zauberhaften Elfe noch wirklich schön waren und sich die Buben noch als Kosmonauten verkleideten, und nicht als American Heroes, wie es die postsowjetischen Kinder inzwischen tun.
Die Erinnerungen, Fantasien und Realitäten überschneiden sich ebenso wie die zeitlichen und räumlichen Strukturen. Es ist nicht auszumachen, ob Petrovs Albtraum einen Tag oder eine Woche andauert, wann genau er selbst im Sarg liegt und warum und ob Sergey (Ivan Dorn) wollte, dass Petrov ihm beim Suizid hilft.
«In dieser absurden Petrov’schen Gedankenwelt widerspiegelt sich nicht nur die Depression einer ganzen russischen Generation; es ist auch deutlich spürbar, dass das Leben in der postsowjetischen Ära stagniert und sich jede*r selbst überlassen ist.»
In dieser absurden Petrov’schen Gedankenwelt – und dem Wetter in Jekaterinburg – widerspiegelt sich nicht nur die Depression einer ganzen russischen Generation; es ist auch deutlich spürbar, dass das Leben in der postsowjetischen Ära stagniert und sich jede*r selbst überlassen ist. Die Grippewelle ist dabei nur eines von vielen Symptomen.
Für erheiternde Momente in «Petrov’s Flu» sorgen nicht nur der unverantwortliche Igor, der Petrov immer wieder in Schwierigkeiten bringt, sondern auch die gute Elfe (Yulia Peresild), die in mindestens drei Zeitperioden in Petrovs Gedanken aus der Perspektive von «Tom und Jerry» auftaucht und einmal tatsächlich von einem Kind gefragt wird, ob sie real sei oder nicht.
In zweieinhalb Stunden wird man aber beinahe überfordert von den vielen Themen und Bildern, welche die ruhelose Kamera von Vladislav Opelyants einzufangen versucht – etwa wenn man in einer langen Einstellung von einem Traum plötzlich in die Realität zurückgeschleudert wird und Ort und Zeit auseinanderzufallen scheinen. Visuell gesehen, ist das lobenswert, aber eben auch schwer nachvollziehbar. Ebenso das gesamte komplexe Drehbuch, das Kirill Serebrennikov basierend auf dem Roman «The Petrovs in and Around the Flu» (2018) von Alexey Salnikov verfasste.
«‹Petrov’s Flu› ist nichts für schwache Nerven.»
Serebrennikov war sich dieser enormen Herausforderung bewusst, wollte aber dennoch möglichst viele von Salnikovs Ideen filmisch umsetzen und scheitert daher ein wenig an dieser Fülle von Plots, Szenen und Zeitzonen, und lässt dem Publikum kaum Zeit zum Interpretieren, oder um sich von einer grauenhaften Szene zu erholen. Bei dieser Überladenheit nützt es auch nichts, dass sich Folklore und Punkmusik abwechseln. Eines ist jedoch klar: «Petrov’s Flu» ist nichts für schwache Nerven.
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Kinostart Deutschschweiz: 23.6.2022
Filmfakten: «Petrov’s Flu» («Петровы в гриппе», «Petrovy v grippe») / Regie: Kirill Serebrennikov / Mit: Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yulia Peresild, Yuri Kolokolnikov, Vladislav Semiletkov / Russland, Frankreich, Schweiz, Deutschland, USA / 147 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
In «Petrov’s Flu» erlebt ein Mann einen febrilen Horrortrip im postsowjetischen Jekaterinburg. Kirill Serebrennikov spiegelt die anhaltende Depression seines Landes in wuchtigen Bildern wider.
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