Über den Wolken, und doch ist die Freiheit nicht für alle grenzenlos – insbesondere nicht für Flugbegleiterinnen, die von ihrem Vorgesetzten schikanös behandelt werden. «Rien à foutre» dokumentiert auf ernüchternde Weise den Karriereweg einer Billig-Airline-Arbeiterin.
Vor dem Abflug erhalten Cassandre (Adèle Exarchopoulos) und ihre Mitarbeiterinnen ein Briefing über den Verkauf von Lebensmittel- und Kosmetikprodukten in der Luft. Ziel ist, den Passagieren so viel wie möglich anzudrehen. Dabei wird die Verkaufsrate von jeder Flugbegleiterin einzeln beobachtet. Für Cassandre ist dies kein Problem, immerhin arbeitet sie schon seit fast drei Jahren für diese Airline.
Ihr fester Standort ist Lanzarote; von dort aus fliegt sie kleinere Destinationen an. Ihre Freizeit verbringt sie mit Tinder-Sex-Dates und Partys mit harten Drogen. Immer an den gleichen Orten und in den gleichen Wohnungen zu leben, ist für Cassandre jedoch kein Pluspunkt. Sie will, wie die Emirates-Flugbegleiterinnen, ein Jetset-Leben führen: jeden Tag eine neue Destination anfliegen, schöne Uniformen tragen, und alles davon auf Instagram posten. Sich niederlassen, einen festen Freund oder gar eine Familie haben, steht nicht auf ihrer Wunschliste.
«Cassandre will, wie die Emirates-Flugbegleiterinnen, ein Jetset-Leben führen: jeden Tag eine neue Destination anfliegen, schöne Uniformen tragen, und alles davon auf Instagram posten. Sich niederlassen, einen festen Freund oder gar eine Familie haben, steht nicht auf ihrer Wunschliste.»
Um auf einem Flug eine Frau zu trösten, kauft Cassandre mit ihrer eigenen Kreditkarte ein Glas Wein für sie – im Wissen, dass sie auf diesem Flug keinen Alkohol selber kaufen darf. Eine Person aus ihrem Team petzt und Cassandre wird per sofort von Lanzarote abgezogen. Eine andere Stationierung ist nicht in Sicht. Dies führt dazu, dass sie zu Vater (Alexandre Perrier) und Schwester (Mara Taquin) zieht und sich mit der Familie und deren Probleme auseinandersetzen muss.
Eingebettet in Sonnenschein und schönen brillanten Farben, kommt mit diesen schon fast retroartigen Bildern Ferienfeeling auf – wäre da nicht die Niedergeschlagenheit von Cassandre. Es ist spürbar, wie wenig Spass ihr alles bereitet, wie sie träumt, ohne zu erleben. Ein beklemmendes Gefühl wird durch Cassandres selbst gewollte Isolation erweckt. Gekrönt wird diese Isolation mit der – dann nicht mehr von ihr gewollten – COVID-Isolation und dem dazugehörigen Social Distancing.
«Tiefe verdankt die Figur der schauspielerischen Leistung von Adèle Exarchopoulos, die gekonnt mit ihrer Mimik Cassandres Innenwelt ein Stück weit gegen aussen preisgibt.»
Warum sie sich das antut, kann nur erraten werden. Adèle Exarchopoulos, bekannt aus «La vie d’Adèle» (2013), verkörpert eine vielschichtige Protagonistin, die manchmal naiv und manchmal abgebrüht ist. Umso ironischer ist der Titel des Films: «Rien à foutre», was ins Deutsche übersetzt so viel heisst wie «Scheiss drauf». Denn obwohl Cassandre stellenweise so wirkt, als wäre ihr alles egal, ist dies nicht der Fall. Diese Tiefe verdankt die Figur der schauspielerischen Leistung von Exarchopoulos, die gekonnt mit ihrer Mimik Cassandres Innenwelt ein Stück weit nach aussen preisgibt.
Grosse Emotionen werden bei den Zuschauer*innen wohl ausbleiben, genau wie bei Cassandre die Selbstfindung ausbleibt. Dies kann zum Teil frustrierend wirken – so bleibt etwa fraglich, warum sie einen Job annimmt, von dem sie wissen müsste, dass er womöglich nur noch strenger als der vorherige sein würde. Darin liegt jedoch auch eine Stärke des Films: Es wird das richtige Leben aufgezeigt, das nicht bloss aus fröhlichen Emirates-Abenteuern besteht. Aus dem langweiligen Flugbegleiterinnen-Leben auszubrechen, ist nicht für alle möglich, und wenn der vermeintlich grosse Job auf sie wartet, ist dieser nicht besser als der vorherige. Cassandres Erwartungen werden nicht erfüllt, genau wie dies im richtigen Leben oft auch der Fall sein kann. Das übertriebene Glück von Hollywood bleibt in diesem Film aus – das ist erfrischend, wenn auch deprimierend.
«Mit ‹Rien à foutre› gelingt dem Regieduo Emmanuel Marre und Julie Lecoustre ein ruhiger und betrübender Film über das Leben einer jungen Flugbegleiterin, die nicht zu ihrem Glück findet.»
Mit «Rien à foutre» gelingt dem Regieduo Emmanuel Marre und Julie Lecoustre ein ruhiger und betrübender Film über das Leben einer jungen Flugbegleiterin, die nicht zu ihrem Glück findet. Auch wenn aufgrund der schönen Bilder zunächst von einem klassischen Sommerfilm ausgegangen werden könnte, ist dem nicht so: Die Stimmung muss für diesen Film passen. Wer eine erhebende Geschichte mit Höhen, Tiefen und einem Happy End sucht, ist hier fehl am Platz.
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Kinostart Deutschschweiz: 7.7.2022
Filmfakten: «Rien à foutre» / Regie: Emmanuel Marre, Julie Lecoustre / Mit: Adèle Exarchopoulos, Mara Taquin, Alexandre Perrier, Arthur Egloff, Tamara Al Saadi, David Martinez Pinon / Frankreich, Belgien / 115 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Outside the Box
In «Rien à foutre» verhält sich die Protagonistin Cassandre nach aussen hin so, als wär ihr alles egal. Dass dem nicht so ist, zeigt der Film mit beflügelnden schauspielerischen Leistungen.
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