Mittlerweile ist auch die 17. Ausgabe vom Fantoche bereits wieder Geschichte. Vom 3. bis 8. September stand Baden einmal mehr ganz im Zeichen des Animationsfilms und vermochte viel Publikum anzulocken.
20 aktuelle Langfilme und unzählige Kurzfilme sowie diverse VR- und AR-Projekte spielten in diesem Jahr am Fantoche und bewiesen eindrücklich, dass man sich selbst in Zeiten des grossen Studiosterbens um den Trickfilm keine Sorgen zu machen braucht. Und auch wenn der letztjährige Besucherrekord nicht ganz erreicht werden konnte, darf man beim Festival mit den 25’500 Personen, die dieses Jahr nach Baden gereist sind, zufrieden sein – immerhin fand gleichzeitig auch die 200-Jahr-Feier von Ennetbaden statt. Unter dem Slogan «Schuhe, Hemd und 100 Lire» setzte man sich am Fantoche heuer insbesondere mit verschiedenen Facetten der Migration auseinander.
Die Maximum Cinema-Redaktion hat das Festival besucht und fasst im Folgenden ihre persönlichen Highlights zusammen:
«Away» und «Les hirondelles de Kaboul»
«Away» wurde von Regisseur Gints Zilbalodis praktisch im Alleingang realisiert, da er neben der Regie und dem Drehbuch auch die Animationen und das Sounddesign selber gestaltete. Entstanden ist ein homogener kleiner Film, der stark an ein Videogame erinnert, durch seine melancholischen Bilder aber auch eine fast therapeutische Wirkung entfaltet. Handlungstechnisch und visuell aufs Wesentliche reduziert, gehört der in Annecy mit dem «Emerging Talent Award» ausgezeichnete Film zu den Entdeckungen des Festivals.
Man schreibt das Jahr 1998. Kabul ist eine Stadt in Trümmern, die Universität ist geschlossen und Musik darf nur im Privaten gehört werden. Verständlich, dass Zunaira, eine junge Frau, in ihren vier Wänden langsam verzweifelt. Auch ihrem geliebten Freund behagt die Situation in Afghanistan nicht, und so kommt es eines Tages zum Streit – mit verheerenden Folgen. Der dramatische Trickfilm von Zabou Breitman und Eléa Gobbé-Mévellec erinnert an «The Breadwinner», ist aber um einiges nüchterner und besticht durch seine eindringlichen Bilder und eine schnörkellose Geschichte mit unvorhersehbaren Wendungen. «Les hirondelles de Kaboul» ist rau und menschlich. (Beitrag von Aurel Graf)
«Mirai» und «Buñuel en el laberinto de las tortugas»
Bruder zu werden, ist gar nicht so einfach. Das muss der kleine Kun schmerzlich lernen. Plötzlich ist da ein kleines Wesen, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, während die Eltern von Kun erwarten, dass er nun gross und vernünftig ist. Stattdessen tobt dieser vor Eifersucht, weint und schreit – und geht auf einige fantastische Abenteuer in Vergangenheit und Zukunft, die ihm beibringen, dass es auch schön sein kann, ein Geschwisterchen zu haben. Mamoru Hosodas «Mirai» taucht mit Feingefühl und zarten Bildern in die fragile Psyche eines Vierjährigen ein und sorgt für einige berührende, zum Nachdenken anregende und sogar beängstigende Momente. Für Menschen, die mit Kindern nicht viel anfangen können, mögen die ständigen Tobsuchtsanfälle des Knirpses allerdings irgendwann anstrengend werden.
Luis Buñuel mag vielen bekannt sein als exzentrischer Regisseur surrealistischer Meisterwerke und enger Bekannter Salvador Dalís. In «Buñuel en el laberinto de las tortugas» will Regisseur Salvador Simó hinter die Fassade des Genies blicken und zeigt den Entstehungsprozess der ethnografischen Satire «Las Hurdes, tierra sin pan» (1933), die Buñuel gemeinsam mit seinen Freunden in einem der ärmsten Gebiete Spaniens drehte. Die Bilder des Films sind von klarer, kühler Schönheit und vereinen sich in manchen Szenen mit Arturo Cardelús märchenhaftem Soundtrack zu einem kleinen Gesamtkunstwerk. Allerdings hätte hier nicht nur visuell mehr mit Buñuels Stil gespielt werden können – auch narrativ stellt sich immer wieder die Frage, inwiefern sich der Film der Satire im Kern seines Themas bewusst ist.
Übrigens: Das Filmpodium in Zürich zeigt «Buñuel en el laberinto de las tortugas» im Oktober exklusiv als Teil seiner Retrospektive über den Regisseur. (Beitrag von Sara Bucher)
«Ruben Brandt, Collector» und «Mind My Mind» (Hors concours)
Der wohl knalligste und rasanteste Film der diesjährigen Fantoche-Ausgabe erzählt vom Kunsttherapeuten Ruben Brandt, der kleptomanische Superschurkenpatienten beauftragt, Gemälde zu stehlen, die in seinen Träumen nach seinem Lebenssaft lechzen. Munter springen die zwei- und dreidimensionalen Figuren in der fantastischen zwei- und dreidimensionalen Welt herum, dazwischen entdeckt man mehr Kunstwerk- und Filmreferenzen als das eigene Gehirn nach der Vision über Synapsen verfügt. Die Thematik des im Unterbewusstsein Verborgenen und der Träume, der Realität und der (krankhaften) Fantasie, die in der Gattung Animationsfilm so viel Spielraum hat wie nirgendwo sonst, wird bei Milorad Krstić‘ Regiedebüt «Ruben Brandt, Collector» zu einem Bildrausch der Farben und Formen, einem visuelles Fest der skurrilen Abgedrehtheit.
«Die besten Kurzfilme lassen sich in den Hors-concours-Blöcken finden», lautet die Weisheit einer neuen Festival-Bekanntschaft. «Hors concours» vereint jene Filme, die es knapp nicht in die offizielle Selektion geschafft haben – man munkelt, dass es Leute geben soll, die diese Blöcke, da von Festivalleiterin Annette Schindler kuratiert, auch «Schindlers Liste» nennen. Von abstrakt-futuristisch bis klassisch-narrativ mit dem gewissen Etwas füttert der zweite «Hors concours»-Block alle Bedürfnisse der Animationsfans durch.
Das Highlight: «Mind My Mind» von Floor Adams. Der knapp 30-minütige Kurzfilm erinnert stark an Pixars «Inside Out», nur dass sich hier nicht die verschiedene Emotionen verkörpernden Inside-Figuren bei der Lenkung der Outside-Protagonistin gegenseitig helfen, sondern ein einziges «Mind» das Verhalten des schnell reizüberfluteten Protagonisten auf Flirtkurs steuert. Der Animationsfilm schafft hier etwas, was der Realfilm nicht kann: Die ultimative Introspektion in das Oberstübchen der Figur; ein sensibler Blick in die Gefilde, die dem Gegenüber normalerweise verborgen bleiben und dessen Funktionsweisen nach aussen zu kommunizieren eine der grössten Herausforderungen aller menschlicher Interaktionen sind. (Beitrag von Lola Funk)
Die Kurzfilme im Wettbewerb
Was für ein Jahrgang! Kränkelte gerade der Internationale Wettbewerb bisher doch stark an seiner verkopften und allzu bemüht avantgardistischen Selektion, war in diesem Jahr davon nichts zu spüren. Die insgesamt fünf Kurzfilmblöcke boten viel Berührendes, Bezauberndes, aber auch sehr viel Komisches. Die Filme im ausgewogenen Wettbewerb bestachen nicht zuletzt durch den Mut, handwerklich wie auch erzählerisch neue Wege zu beschreiten. Zumindest in dieser Hinsicht hatte die internationale Auswahl der eher durchschnittlichen und bisweilen beängstigend braven Swiss Competition einiges voraus.
Nicht nur das Selektionsteam, auch die Jurys haben ihren Job gut gemacht und am Sonntagabend die richtigen Filme zu den Gewinnern gekürt. Unter den Preisträgern waren auch zwei der längsten Filme des Festivals, die aber zu keinem Zeitpunkt langweilten. Eher überraschend wurde der innovative und berührende Halbstünder «Acid Rain» von Tomek Popakul nicht mit dem Hauptpreis, aber dafür immerhin mit dem ebenso verdienten «High Risk»-Award ausgezeichnet, während Chintis Lundgrens versaut-verspielte Komödie «Toomas Beneath the Valley of the Wolves» (18 Minuten waren noch nie so kurzweilig) mit dem Preis für den besten Ton ausgezeichnet wurde. Auch der charmante Publikumspreisträger «Sweet Night» von Lia Bertels ist ein völlig verdienter Gewinner.
Im Schweizer Wettbewerb gab es gleich zwei Doppelgewinner: Das visuell beeindruckende Weltraumdrama «The Lonely Orbit» von Frederic Siegel und Benjamin Morard, das auch im internationalen Vergleich antrat, nahm sowohl den Preis der Jugendjury als auch den «Fantastic Swiss Award» des NIFFF entgegen. Marjolaine Perretens zuckersüsser Kurzfilm «Le dernier jour d’automne» wurde mit einer Special Mention der Jury bedacht und wurde obendrein auch vom Publikum zum Liebling erkoren. Der Hauptpreis im Schweizer Vergleich ging dabei völlig berechtigt an Gabriel Böhmers grobschlächtigen «The Flood Is Coming».
Die Kinderjury zeichnete derweil den berührenden «The Bird and the Whale» von Carol Freeman mit dem Hauptpreis aus, während Vorjahressiegerin Julia Ocker erneut den Publikumspreis für ihren «Elefant» entgegennehmen durfte. (Beitrag von Owley Samter)
Alle Gewinner im Überblick:
INTERNATIONALER WETTBEWERB
- Bester Film: «Daughter», Daria Kashcheeva (Tschechien)
- High Risk: «Acid Rain», Tomek Popakul (Polen)
- New Talent: «La plongeuse», Iulia Voitova (Frankreich)
- Bester Sound: «Toomas Beneath the Valley of the Wild Wolves», Chintis Lundgren (Estland/Kroatien/Frankreich)
- Special Mention: «Memorie di Alba», Andrea Martignoni, Maria Steinmetz, (Deutschland/Italien)
- Publikumspreis: «Sweet Night», Lia Bertels (Belgien)
SCHWEIZER WETTBEWERB
- Best Swiss: «The Flood Is Coming», Gabriel Böhmer (Grossbritannien/Schweiz)
- High Swiss Risk: «KIDS», Michael Frei (Schweiz)
- New Swiss Talent: «Braises», Estelle Gattlen, Sarah Rothenberger (Schweiz)
- Fantastic Swiss: «The Lonely Orbit», Frederic Siegel, Benjamin Morard (Schweiz)
- Special Mention:«Le dernier jour d’automne», Marjolaine Perreten (Schweiz)
- Swiss Youth Award: «The Lonely Orbit», Frederic Siegel, Benjamin Morard (Schweiz)
- Publikumspreis: «Le dernier jour d’automne», Marjolaine Perreten (Schweiz)
KINDERFILM-WETTBEWERB
- Best Kids: «The Bird and the Whale», Carol Freeman (Irland)
- Special Mention: «Fire in Cardboard City», Phil Brough (Neuseeland)
- Kinderpublikumspreis: «Elefant», Julia Ocker (Deutschland)
Bildquellen: fantoche.ch
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