Ein Schweizer Dokumentarfilm widmet sich den Grizzlybären von Alaska so bildgewaltig, dass die pelzigen Protagonisten zu sympathischen Charakteren werden – und «Der Bär in mir» vor lauter Verfolgungsjagd auf Bärenpfaden vergisst, der menschlichen Hauptfigur auf die Spur zu kommen.
Nur Kinderbücher und chinesische Souvenir-Shops enthalten mehr Bären als die Filmgeschichte. «Winnie the Pooh» erhielt 2006 einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Die Geschichte des peruanischen Fellknäuels, der mit nur einem Strohhut und einem Koffer an der Londoner Paddington-Station ankommt, wurde 2014 verfilmt und zum Publikumserfolg. Ein Blick in Disneys «Dschungelbuch» deckt zwar biologische Ungereimtheiten auf – die im indischen Dschungel tatsächlich vorkommenden Lippenbären unterscheiden sich deutlich vom gezeichneten Braunbär-Grizzly-Hybrid –, etabliert aber auch eine Charaktereigenschaft, die dem fiktionalen Bären oft zugeschrieben wird: «Probier’s mal mit Gemütlichkeit», singt Balu, «und das Glück wird dich finden». Dem tiefentspannten Grossgrauen glaubt man sofort: Die Bären wissen, wie das geht mit der Gemütlichkeit. Interessant ist, dass der Song in Originalsprache «The Bare Necessities» («Die nackten Notwendigkeiten») heisst – und statt der Aufforderung zum Chillen vielmehr davon handelt, wie ein Leben reduziert auf das Nötigste das grösstmögliche Glück bringt: «That’s why a bear can rest at ease / With just the bare necessities of life.»
Vom Teddy zum Grizzly
Bei dieser Lebenshaltung setzt der Dokumentarfilm «Der Bär in mir» von Roman Droux an – und zwar gleich im doppelten Sinne: geografisch, indem er sich dorthin begibt, wo es aus menschlicher Sicht ausser dem Notwendigsten nichts gibt; und inhaltlich, indem er der immer distanzierter werdenden Beziehung des Menschen zur Natur exemplarisch während eines Aufenthalts bei den Grizzlybären im Katmai-Nationalpark nachgeht. Droux begleitet in seinem Film den Biologen und Bärenforscher David Bittner, der sich seit bald 20 Jahren so intensiv mit den Tieren befasst, dass bereits mehrere Ausstellungen und Filme über ihn und seine Arbeit entstanden sind. Droux selbst wiederum – bekannt für «Pamir» (2002), «Höhenflug» (2008), «Berge der Schweiz» (2009) –, der sich filmdurchgehend als Ich-Stimme aus dem Off einschaltet, geht seiner eigenen Frage nach: Was passiert mit mir, wenn ich mich in die nächste Nähe dieses Wesens begebe, das mich seit meiner Kindheit in Form von Teddys oder den traurig-apathischen Exemplaren im alten Berner Bärengraben begleiten?
Filmemacher und Bärenforscher packen also ihre Ausrüstung und machen sich auf den Weg ans äusserste Ende von Alaska. Als Schweizer ist ihnen der Bär scheinvertraut – irgendwie heimisch und eins der hiesigen Wildtiere, zugleich aber exotisch genug, um fremd und furchteinflössend zu wirken. Die tierischen Protagonisten im Küstengebirge Alaskas heissen, wenig überraschend und sehr schweizerisch, Balu, Bruno oder Berta. Der menschliche Protagonist macht sich indes jeden Morgen auf die Jagd: nach einem Wiedersehen mit seiner Lieblingsbärin Luna, nach den spektakulärsten Filmaufnahmen, nach neuen Erkenntnissen über den Alltag dieser Tiere, die im Frühling sichtlich ausgehungert aus ihren Höhlen kommen und bis zur Rückkehr der Lachse um die wenig vorhandene Nahrung, ums Überleben ihres Nachwuchses und dabei auch gegeneinander kämpfen.
Was passiert mit mir, wenn ich mich in die nächste Nähe dieses Wesens begebe, das mich seit meiner Kindheit in Form von Teddys oder den traurig-apathischen Exemplaren im alten Berner Bärengraben begleiten?
Von Tatzen und Schnauzen
Kamera und Publikum begleiten in Droux’ Film, einer nicht uncharmanten Mischung aus Dokumentar- und Naturfilm mit eingestreuten Making-of-Momenten, einen international anerkannten Fachmann, der trotz Hunderten von absolvierten Vorträgen immer noch eine kindliche Faszination für die Bären hegt. Um sein Zelt spannt er einen Elektrozaun, den er ausschaltet, wenn die Bären zu nahe kommen – er will ihnen ja nicht wehtun. Das erklärt er ihnen auch genau – zuerst auf Deutsch, dann wechselt er ins Englische.
Der mächtige Balu ist sein bester Freund, die blonde Luna seine grosse Liebe. Als der schwächste Drilling eines Wurfs von einem erwachsenen Rivalen zu Tode gebissen wird, steht er vor dem zertrümmerten Schädel und kämpft mit den Tränen. In der klassischen Manier des Tierfilms, wo Tiere durch ihr natürliches Verhalten Impulse für die Handlung des Films geben, erlebt das Publikum so eine Bärensaison mit, lernt die Tiere kennen und lieben. Droux’ Kameras – es braucht auch deshalb mehrere, weil sie mitunter zwischen die neugierigen Tatzen geraten – kommen den Grizzlies so nah wie kaum jemand zuvor, was nicht nur Biolog*innen auf der ganzen Welt begeistern, sondern auch zahlreiche Familien ins Kino locken dürfte.
Distanz trotz nächster Nähe
Bei all der Faszination für Lachsfangtechniken, Zweikampfverletzungen und die Zutraulichkeit der riesigen Wildtiere bleibt der eigentliche Protagonist – Bärenforscher Bittner – leider auch nach 90 Minuten Filmdauer ein Fremder. Die an sich auf der Hand liegenden klimapolitischen Fragen werden nur mit einer Kameraeinstellung thematisiert: Als die Lachse endlich zahlreich erscheinen, suggeriert ein Kameraschwenk über die ebenso zahlreich aufgetauchten Fischereiflotten, dass Sushi-Theken und Lachs-Linguine vielleicht direkten Einfluss auf das Leben von Bruno und Berta nehmen könnten. Oder bereits genommen haben? Bei diesem Streifschuss bleibt es dann allerdings auch. Seinen menschlichen Protagonisten verlässt der Film sogar am interessantesten Punkt – als er sich übers Funkgerät von seiner Frau von seinen beiden «Prinzessinnen» (wer damit gemeint ist, bleibt offen) berichten lässt, ratlos zwischen Kamera und der neben ihm hockenden Bärin hin- und herblickt und sich eingesteht: «Ich glaube, ich spinne.»
Mit dem Auffinden, aber Auslassen dieses blinden Flecks handelt der Film vor allem von Sehnsucht – nach dem Ursprünglichen und Einfachen, dem Wilden und Fremden, dem Unzugänglichen und Unzähmbaren – und verpasst es dabei, anhand einer ganz individuellen Biografie diesem Gemeinplatz der Wohlstandsgesellschaft auf den Grund zu gehen. Droux’ Dokumentarfilm erzählt damit vor allem von einer Erkenntnis: Wer über 7’000 Kilometer weit reisen muss, um zu spüren, «wie nahe Leben und Tod sind» (so die Stimme aus dem Off), muss sich eingestehen, dass seine Beziehung zur Natur eine entfremdete ist. Filmer und Forscher sind ständig hin- und hergerissen: zwischen einem phasenweise infantil anmutenden Teilhaben- und Einswerdenwollen und dem wachsenden Bewusstsein, dass der Mensch wohl kaum je mehr ein sich ein- oder unterordnender Teil der Natur wird.
Film zeigt die Suche nach einem Leben, das, reduziert aufs Nötigste, an Fülle gewinnt – ganz so, wie es Balu auch den Kindern der Fridays-for-Future-Generation noch vorsingen wird.
Damit wird zumindest die Leitfrage des Regisseurs und die Bedeutung seines Filmtitels aufgelöst: Der Bär in Roman Droux ist der Teil, der sich nach einem ursprünglichen Leben im Einklang mit Flora und Fauna sehnt, in dem der Mensch der Natur mit Respekt begegnet und sie nicht als Konsumgut, sondern als Daseinsbasis versteht. Der Film zeigt die Suche nach einem Leben, das, reduziert aufs Nötigste, an Fülle gewinnt – ganz so, wie es Balu auch den Kindern der Fridays-for-Future-Generation noch vorsingen wird. Ob Bruno und Berta bis dann noch Lachs zu fangen haben, wird sich zeigen. Es bleibt zu hoffen, dass der deutsche Balu, der es sich mit der Haltung «und wenn etwas appetitlich ist, / dann nimm es dir, egal von welchem Fleck» etwas gar gemütlich macht, doch noch von seinem englischen Pendant übertönt wird.
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Kinostart Deutschschweiz: 12.12.2019
Filmfakten: «Der Bär in mir» / Regie: Roman Droux / Schweiz / 91 Minuten
Bild- und Trailerquelle: cineworx
Sensationelle Bilder von den Grizzlies in der unberührten Wildnis Nordamerikas. Leider verlässt der Regisseur seinen menschlichen Protagonisten im interessantesten Moment.
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