Nach «Das merkwürdige Kätzchen» und «Das Mädchen und die Spinne» vollenden Ramon und Silvan Zürcher ihre tierische Trilogie über komplizierte Familienverhältnisse mit «Der Spatz im Kamin» – einem Drama im Leerlauf.
Von Mike Nichols‘ «Who’s Afraid of Virginia Woolf?» (1966) über Claude Chabrols «La Cérémonie» (1995) und Roman Polanskis «Carnage» (2011) bis hin zu Ruben Östlunds «Force Majeure» (2014) und Bettina Oberlis «Wanda, mein Wunder» (2020): Das kammerspielartige, psychologisch intensive Familiendrama hat Tradition im «anspruchsvollen» Kino. Das Muster ist wohlbekannt: Das Zusammentreffen verschiedener Figuren in ungewohnter Konstellation beschwört verdrängte Konflikte herauf; es werden spitze Bemerkungen fallen gelassen und Ressentiments offengelegt, bis die höflichen Fassaden der Bourgeoisie vor lauter (passiver) Aggression in sich zusammenbröseln. In diesen Filmen wird die erweiterte Familie – nicht selten mitsamt Dienstpersonal und angeheirateten Aussenseiter*innen an einem Ort versammelt – so zum gesellschaftlichen Mikrokosmos, der dem Publikum die gutbürgerliche Scheinheiligkeit vor Augen führen soll.
Ganz diesem zum Subgenre gewordenen Erzählmuster scheint sich das Berner Zwillingspaar Ramon und Silvan Zürcher verschrieben zu haben. Nachdem bereits ihr Debüt «Das merkwürdige Kätzchen» (2013) – geschrieben und inszeniert von Ramon, produziert von Silvan – und ihr Zweitwerk «Das Mädchen und die Spinne» (2021) – geschrieben und inszeniert im Duett, produziert von Silvan – von familiären Spannungen erzählten, bearbeitet nun auch «Der Spatz im Kamin» dieses Thema. Regie und Drehbuch übernahm Ramon diesmal wieder im Alleingang.
Als Schauplatz dient ihm hier ein stattliches Haus am Waldrand, das Karen (Maren Eggert) einst von ihrer herrischen Mutter geerbt hat. Hier wohnt sie mit Ehemann Markus (Andreas Döhler), ihrer rebellierenden Tochter Johanna (Lea Zoë Voss) und ihrem kurz vorm Teenageralter stehenden Sohn Leon (Ilja Bultmann). Doch obwohl der Haussegen sichtlich schon seit Längerem schief hängt – Karen und Markus gifteln sich an, während die Kinder sich von ihrer Mutter ausgenutzt und niedergemacht fühlen –, wird ein Fest vorbereitet: Markus‘ Geburtstag soll ausgiebig gefeiert werden, und zwar in Anwesenheit von Karens jüngerer Schwester Jule (Britta Hammelstein), ihrem Mann Jurek (Milian Zerzawy) und Edda (Luana Greco), Jules und Jureks Tochter im Grundschulalter.
«Alle Figuren stehen fein säuberlich an ihrem Platz – der familiäre Zerfleischungskrieg kann beginnen. Doch genau das ist die Crux in diesem Film.»
Spannungen sind vorprogrammiert. Karen kann es nicht ausstehen, dass Jule der Meinung ist, dass nur sie sich von ihrer Mutter emanziperen konnte. Der in der Schule gemobbte Leon erträgt es nicht mehr, auch zu Hause nur Prügelknabe zu sein. Die minderjährige Johanna flirtet unübersehbar mit dem 25 Jahre älteren Jurek. Und Markus sucht Trost in den Armen von Liv (Luise Heyer), die zurzeit in einer zum Grundstück gehörenden Waldhütte wohnt.
Mit anderen Worten: Alle Figuren stehen fein säuberlich an ihrem Platz – der familiäre Zerfleischungskrieg kann beginnen. Doch genau das ist die Crux in diesem Film: Wer beim Abarbeiten eines längst zur fest etablierten Drama-Untergattung geronnenen Formats nicht aufpasst, läuft Gefahr, in dröge Automatismen zu verfallen – und genau das passiert den Zürchers hier.
«Der Spatz im Kamin» kennt alle Gesten seines Subgenres in- und auswendig. Etwas Chabrol’sche Bissigkeit gegenüber den Selbsttäuschungen der oberen Mittelschicht hier, etwas wohlkalkulierte Hanek’sche Grausamkeit gegenüber Kindern und Tieren dort – Szenen, die «Provokation» und «Tabubruch» signalisieren, ohne jedoch die Sehgewohnheiten eines durchschnittlichen Arthouse-Publikums wirklich herauszufordern: Leon, der seinen geschundenen Oberkörper entblösst; Jurek, der nach Johannas Annäherungsversuch in der Dusche masturbiert; eine Haustiertötung als Trotzreaktion. Abgeschmeckt wird das Ganze mit den bereits aus «Das Mädchen und die Spinne» bekannten, gewollt theaterhaft wirkenden Dialogen und nachdrücklich melodramatischen Eskalationen, welche die Affiche literarisch überhöhen und somit ironisch brechen.
«All das könnte funktionieren, würde es nicht mit der spröden emotionalen Entrücktheit einer filmwissenschaftlichen Seminararbeit über ‹das Familiendrama als Spiegel bürgerlicher Malaise› vorgetragen.»
All das könnte funktionieren, würde es nicht mit der spröden emotionalen Entrücktheit einer filmwissenschaftlichen Seminararbeit über «das Familiendrama als Spiegel bürgerlicher Malaise» vorgetragen. Fast alles in «Der Spatz im Kamin» – jeder gefühlsaufgeladene Blick, jeder allzu kräftig auf den Tisch geknallte Teller, jedes eisige «Ich hasse dich», jede scheinbar willkürliche, dafür umso symbolträchtigere Übersprungshandlung, jede unheilschwangere Einstellung von Hund, Katze, Schmetterling oder Seegurke – geschieht mit ermüdender Unvermeidlichkeit. Die schablonenhaften Figuren verhalten sich so, wie sie sich verhalten, die Geschichte nimmt den Lauf, den sie nimmt, weil das nun einmal in so einem Film passiert – nicht, weil es sich organisch aus dem Gezeigten ergibt.
Selbst in den wenigen Momenten, in denen der Film aus dieser eindimensionalen Subgenre-Ergebenheit auszubrechen droht, verlässt ihn schliesslich doch der Mut. So deutet «Der Spatz im Kamin» in seinem letzten Akt gleich mehrmals einen radikalen Bruch mit Tonfall und dramatischem Bogen an, indem er sich in Richtung anregender Pietätlosigkeit zu bewegen scheint – Stichwort: Partyhölle –, nur um sich dann flugs aus der Affäre zu ziehen: Es war nur ein Traum, eine Vision, eine filmbildgewordene Metapher, die es dem Publikum erlaubt, den Stilbruch mental abzuhaken und in die sichere Umarmung der Drama-Konvention zurückzukehren.
Gemessen an den Zielen, die er sich selber setzt, ist «Der Spatz im Kamin» wahrscheinlich kein kapitaler Misserfolg. Er erzählt formal kompetent, erzählerisch grundsätzlich nachvollziehbar – wenn auch blutleer – von toxischen Familienverhältnissen, von einer traumatisierten Tochter, die auch Mutter, Schwester und Ehefrau sein muss, von gut situierten Mittvierzigern, die ihre mannigfaltigen Frustrationen auf die eine oder andere destruktive Weise an ihrem Umfeld auslassen.
«‹Der Spatz im Kamin› ist Drama auf Autopilot.»
Und dennoch wirkt der Film festgefahren, gekettet an eine filmische (und filmfestivalerprobte) Tradition, deren Einfluss er nicht in eine eigenständige kreative Vision ummünzen kann. Die Geschichte, die er erzählt, wurde schon unzählige Male besser, oder zumindest emotional anregender, verfilmt; derweil die gesellschaftspolitischen Themen, die er anschneidet, hoffnungslos aus der Zeit gefallen wirken: Wem tun zahme Seitenhiebe auf die kleingeistigen Sticheleien und selbstbezogenen Streitereien der Bourgeoisie im Jahr 2024 denn noch weh? «Der Spatz im Kamin» ist Drama auf Autopilot.
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Kinostart Deutschschweiz: 19.9.2024
Filmfakten: «Der Spatz im Kamin» / Regie: Ramon Zürcher / Mit: Maren Eggert, Britta Hammelstein, Luise Heyer, Andreas Döhler, Milian Zerzawy, Lea Zoë Voss, Ilja Bultmann, Paula Schindler, Luana Greco / Schweiz / 117 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
«Der Spatz im Kamin» erzählt eine wohlbekannte Geschichte, ohne sie mit eigenen Ideen anzureichern. Das führt zu einem blutleeren und ermüdend eindimensionalen Drama.
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