«Favolacce» ist eine verschachtelte, bedrückende Geschichte mit Protagonisten kurz vor dem emotionalen Überkochen. Die Regisseure Damiano und Fabio D’Innocenzo schaffen in der italienisch-schweizerischen Koproduktion eine eigenwillige Stimmung zwischen Sommerhitze und geplatzten Träumen.
Ein Junge verschluckt sich, ein scheues Mädchen wird wegen Läusen kahl rasiert, zwei Väter fantasieren über die Vergewaltigung einer Nachbarin, ein Pool platzt. «Favolacce» spielt im Sommer in einer eintönigen Reihenhaussiedlung im Speckgürtel Roms, wo klassische Rollenbilder und unerreichbare Ziele die Emotionen unterdrückt halten. Eine Erzählerstimme (Max Tortora) berichtet zu Beginn des Films von einem Tagebuch eines unbekannten Mädchens. Die beschriebene Kinderwelt ist ein märchenhafter Ort mit warmen Farben und alltäglichen Momenten, über der ein fragiler Frieden hängt.
«‹Favolacce› spielt im Sommer in einer eintönigen Reihenhaussiedlung im Speckgürtel Roms, wo klassische Rollenbilder und unerreichbare Ziele die Emotionen unterdrückt halten.»
Die Kinder des Quartiers stehen kurz vor der Pubertät. Ihre kindliche Naivität ist kombiniert mit Interessen, die nicht mehr ganz so harmlos sind. Der clevere Dennis (Tommaso Di Cola) ist in die blonde Kantine-Mitarbeiterin Vilma (Ilena D’Ambra) verknallt, die im siebten Monat schwanger ist und schier aus allen Nähten platzt. Kugelrund wie Vilma ist, befeuert sie Dennis‘ Fantasien, wenn sie in einer Szene kurzerhand Milch aus ihrem Busen auf seinen Schoko-Cookie spritzt.
Vilma fällt durch ihre überbordende Weiblichkeit auf und ist eine der wenigen, die Dennis Vertrauen geniesst. Die anderen Frauen sind auffallend passiv und antriebslos, die Männer treffen die Entscheidungen. Die Väter versuchen, den Schein eines erfolgreichen Lebens aufrechtzuerhalten, und sind dabei in ihrer patriarchalen Rolle gefangen – dies mit knallhartem, zerstörerischem Machogehabe. Unfähig, mit seinen Emotionen klarzukommen, lässt der Vater von Dennis (Elio Germano) seinen Frust über sein versautes Leben an den Kindern aus. Die Konsequenzen kann er aber nicht tragen, das überlässt er – heimlich heulend wie ein Baby – der fassungslosen Mutter (Barbara Chichiarelli). Die Kinder scheinen die einzigen zu sein, die fähig sind, aus dieser Kartenhaus-Welt auszubrechen – indem sie die Kartenhäuser zum Einsturz bringen.
«Den Brüdern Fabio und Damiano D’Innocenzo gelingt nach ihrem Grosserfolg ‹La terra dell’abbastanza› eine stimmungsvolle Fabel über das verkorkste Leben in einer Vorstadtsiedlung.»
Den Brüdern Fabio und Damiano D’Innocenzo gelingt nach ihrem Grosserfolg «La terra dell’abbastanza» (2018) eine stimmungsvolle Fabel über das verkorkste Leben in einer Vorstadtsiedlung. «Favolacce» ist visuell bunt und geschickt gestaltet, inhaltlich verschachtelt und baut gekonnt eine hitzig-bedrückende Stimmung auf, die am Ende die kleine Welt implodieren lässt. Es fällt einem schwer, die Protagonisten lieb zu gewinnen, denn dafür sind sie als Menschen zu figurativ und damit mehr Spielfiguren in einer Fabel als echte Schicksale zum Mitfühlen. Trotz vieler Emotionen bleiben die Figuren also distanziert. Der Vorteil daran: So bleibt der Fokus ganz auf der kleinen verrückten Welt der Kartenhäuser.
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Kinostart Deutschschweiz: 8.10.2020 / Streambar auf filmingo
Filmfakten: «Favolacce» / Regie: Damiano und Fabio D’Innocenzo / Mit: Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Max Tortora, Lino Musella, Gabriel Montesi, Max Malatesta, Tommaso Di Cola, Ilena D’Ambra, Giulietta Rebeggiani / Italien, Schweiz / 98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
«Favolacce» ist ein überzeugend geschriebenes und bebildertes Porträt eines italienischen Sommers. Trotz vieler Emotionen schaffen es die Figuren aber kaum, wirklich zu berühren.
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