In Zusammenarbeit mit der deutschen Produktionsfirma Wild Bunch hat das japanische Studio Ghibli eine Ode an die Macht des reinen Bildes gemacht: Michaël Dudok de Wits Animationsfilm „La tortue rouge“ ist ein magisches Erlebnis.
Obwohl das internationale Publikum den Namen Ghibli vorab mit dem unlängst in Rente gegangenen Oscarpreisträger Hayao Miyazaki („My Neighbor Totoro“, „Princess Mononoke“, „Spirited Away“) verbindet, trägt Dudok de Wits Langspielfilmdebüt merklich die Handschrift eines anderen Ghibli-Mitbegründers. In „La tortue rouge“ trifft der Minimalismus des Holländers, der bislang mit animierten Kurzfilmen wie „Le moine et le poisson“ oder „Father and Daughter“ aus sich aufmerksam gemacht hat, auf denjenigen von Isao Takahata, dem konzeptuelleren Gegenstück zum technischen Perfektionisten Miyazaki. Takahata, obschon zu Bildern von atemberaubender Detailfreude fähig – siehe „Grave of the Fireflies“ – mag flächige Tableaux, denen im Idealfall die Spuren der Produktion noch anzusehen sind. Wer diesen Stil in Reinform sehen will, muss nicht weiter als „The Tale of Princess Kaguya“ suchen, der mit seiner Aquarell- und Kohlestift-Ästhetik zu den beeindruckendsten Zeichentrickfilmen der 2010er Jahre gehört.
Takahata, der hier als Produzent fungiert, ist eine unübersehbare Präsenz im wortlosen „La tortue rouge“, der Geschichte eines Schiffbrüchigen, der sich auf eine einsame Insel retten kann, von einer grossen roten Schildkröte aber beharrlich an der Flucht gehindert wird. Sein Einfluss ist in den Aufnahmen des weiten Sandstrandes erkennbar, in denen sich der Gebrauch von echten Sandkörnern erahnen lässt. Minimalismus und Liebe zum Detail treffen sich in den unendlich nuanciert gemalten Schatten und dem sich stetig im Fluss befindenden Wasser – von sturmgepeitschtem Grau zu glasklarem Azur.
Die meisten Zuschauer wird Dudok de Wit mit seiner grossartigen Animation anlocken – veredelt durch Laurent Perez del Mars betörende Musik –, derweil die Handlung viele auf dem falschen Fuss erwischen dürfte. „La tortue rouge“ schaltet nahtlos zwischen Survival-Drama und magischem Realismus hin und her, zwischen stillem Humor – ein Höhepunkt: eine Gruppe von Krabben – und schonungslos sachlich dargestellter Tragik. Unter der wunderschönen Oberfläche verbergen sich philosophische Ansätze zur Beziehung zwischen Mensch und Natur und zur fliessenden Grenze zwischen Realität und Fantasie; und auch das Zeitalter des Kolonialismus scheint der Film, der möglicherweise im 18. Jahrhundert spielt, nicht gänzlich unkommentiert zu lassen.
Den Wechsel von Parabel zu Erzählkino vollführt Dudok de Wit zwar nicht immer mit maximaler Eleganz, doch das gerät angesichts der herrlichen Kunstfertigkeit und der schieren Suggestivkraft dieses Projekts zur Nebensache. Mit dem bewegenden „La tortue rouge“ lassen Wild Bunch und Ghibli auf eine strahlende Zukunft europäisch-japanischer Animationskollaborationen hoffen.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.9.2016 / Regie: Michaël Dudok de Wit
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
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