Die Begegnungen mit den Menschen, die unser Essen liefern, bleiben oft anonym und unpersönlich – ebenso die politischen Debatten, in denen Geflüchtete in häufig als gesichtslose, homogene Masse dargestellt werden. In «L’Histoire de Souleymane» durchbricht Regisseur Boris Lojkine diese Barrieren. Er nimmt uns mit in den Alltag von Souleymane, einem geflüchteten Velokuriers in Paris, und lässt uns an den letzten 48 Stunden vor seinem entscheidenden Asylgespräch teilhaben.
Für den guineischen Migranten Souleymane (Abou Sangaré) ist sein Job als Velokurier überlebenswichtig: Getrieben von der dringenden Notwendigkeit, Geld zu verdienen, kämpft er täglich um seine Existenz. Unermüdlich rast er durch die Straßen von Paris, um Essen auszuliefern – gezwungen, den Account eines Bekannten zu nutzen, da ihm ohne gültige Arbeitsbewilligung die Möglichkeit verwehrt bleibt, einen eigenen zu erstellen. Doch es steht ein entscheidender Wendepunkt bevor: In wenigen Tagen findet sein Asylgespräch statt, das über seine Zukunft in Frankreich entscheiden wird.
Wie schon in seinem ersten Werk, «Hope» (2014), widmet sich Boris Lojkine auch in seinem dritten Spielfilm dem Schicksal geflüchteter Menschen. Gemeinsam mit Drehbuchautorin Delphine Agut («Inshallah a Boy») gelingt es ihm, eine Geschichte, die ebenso aus einem Dokumentarfilm stammen könnte, auf einfühlsame und erhellende Weise in ein fesselndes Drama zu verwandeln.

Abou Sangaré in «L’Histoire de Souleymane» / © trigon-film
«L’Histoire de Souleymane» verzichtet vollständig auf Filmmusik und lässt stattdessen die Geräuschkulisse der Stadt für sich sprechen – und das mit grosser Wirkung: Souleymanes rasante Fahrradfahrten durch die Strassen von Paris, untermalt von schnellen Schnitten, verleihen dem Film eine thrillerartige Dynamik. Ein treffender Vergleich lässt sich zu Vittorio De Sicas neorealistischem Meisterwerk «Ladri di biciclette» (1948) ziehen, denn beide Werke drehen sich nicht nur um die wirtschaftliche Bedeutung des Fahrrads, sondern sind auch intensive Klassendramen, geprägt vom stetigen Zeitdruck, der auf den Protagonisten lastet.
Das wenige Geld, das Souleymane verdient, gibt er einem Broker, der ihm helfen soll, eine glaubhafte Geschichte zu erfinden, die seine Chancen auf Asyl erhöht. Denn Souleymane musste weder vor Völkermord fliehen noch politische Verfolgung fürchten. Stattdessen teilt er das Schicksal vieler Migrant*innen in Europa: Er sucht schlicht nach der Möglichkeit, ein besseres Leben für sich und seine Familie aufzubauen – eine Hoffnung, die in unserer Gesellschaft oft als nicht legitim genug abgetan wird.
«Mit beeindruckendem Feingefühl und grosser Authentizität bringt Hauptdarsteller Abou Sangaré Souleymans täglichen Überlebenskampf auf die Leinwand – vor dem drängenden Hintergrund, dass schon bald auch über seine Zukunft im Land entschieden wird.»
Die aussergewöhnliche Fähigkeit, sich in Souleymans Gefühlswelt hineinzuversetzen, verdankt der Film nicht zuletzt der nuancierten und kraftvollen Darstellung von Abou Sangaré. Der Laienschauspieler, hier in seiner ersten Rolle zu sehen, kämpft auch im echten Leben um einen legalen Aufenthaltsstatus in Frankreich. Mit beeindruckendem Feingefühl und grosser Authentizität bringt er Souleymans täglichen Überlebenskampf auf die Leinwand – vor dem drängenden Hintergrund, dass schon bald auch über seine Zukunft im Land entschieden wird. Für diese Leistung wurde Sangaré bei den Filmfestspielen von Cannes in der Sektion Un Certain Regard mit dem Schauspielpreis ausgezeichnet.

© trigon-film
«‹L’Histoire de Souleymane› fordert uns auf, das zu tun, was in unserer Gesellschaft so dringend nötig wäre: einem Mitmenschen zuzuhören – ohne Vorurteile, ohne Schubladisierung.»
«L’Histoire de Souleymane» fordert uns auf, das zu tun, was in unserer Gesellschaft so dringend nötig wäre: einem Mitmenschen zuzuhören – ohne Vorurteile, ohne Schubladisierung. Boris Lojkine gelingt es, Souleymanes Geschichte mit solcher Menschlichkeit zu erzählen, dass sie weit über die Leinwand hinaus nachhallt. Es ist ein Film, der nicht nur berührt, sondern uns auch daran erinnert, dass die Humanität in der Migrationsfrage nie aus den Augen verloren werden darf.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.1.2025
Filmfakten: «L’Histoire de Souleymane» / Regie: Boris Lojkine / Mit: Abou Sangaré, Nina Meurisse, Alpha Oumar Sow, Emmanuel Yovanie, Younoussa Diallo / Frankreich / 93 Minuten
Bild- und Trailerquelle: trigon-film
«L'Histoire de Souleymane» ist die einfühlsam erzählte Geschichte eines Einzelnen, die dennoch das Schicksal vieler widerspiegeln könnte. Ein spannender, menschlicher Grossstadtthriller.
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