Klaudia Reynicke widmet sich in ihrem zweiten Langspielfilm erneut einer jungen Frau aus dem Tessin, die mit einer traumatischen Familiengeschichte kämpft. Im Pop-Drama «Love Me Tender» kämpft sich die an Agoraphobie (Platzangst) leidende Protagonistin auf unkonventionelle Weise zurück ins Leben.
Aufgrund einer Angststörung hat die 32-jährige Seconda (Barbara Giordano) das Haus, in dem sie mit ihren Eltern lebt, seit neun Monaten nicht mehr verlassen. Emotional völlig abgestumpft, bewegt sie sich von Zimmer zu Zimmer, schaut fern, beginnt wie aus dem Nichts eine choreografische Mischung aus Aerobic und Kampfkunst zu inszenieren, provoziert die Eltern und die Katze wie ein trotziger Teenager und scheint diese Attitüden zu geniessen, als wollte sie ihre Eltern bestrafen.
Das ändert sich auch nicht, als die Mutter plötzlich stirbt und der Vater sie verlässt. Hier beginnt eine unendlich lange Reise durch Secondas innere Zerrissenheit und Isolation, durchbrochen von kurzen Sequenzen, in denen sie entweder etwas aus dem Fenster wirft, um vorbeigehende Passanten zu ärgern, oder sich über die täglichen vulgären Nachrichten eines Gläubigers ihres Vaters freut, die sie am Anrufbeantworter abhört. Es sind ihre einzigen Verbindungen nach Draussen.
Die Nahrungsreserven sind verbraucht, der Selbstmord gelingt nicht. Erst als ein kleines Mädchen (Federica Vermiglio) ihr Fenster einschlägt, ist sie so wütend, dass sie sich in einen Ganzkörperoverall zwängt und das Haus verlässt. Hier vollzieht der Film die langersehnte Wende, denn nun muss sich Seconda der Aussenwelt stellen. Zudem findet sie in Santo (Antonio Bannò) einen unfreiwilligen Komplizen, den sie auf groteske Art entführt.

Die 32-jährige Seconda (Barbara Giordano)
Was auch immer dieser Film versucht, über Secondas geistige Gesundheit und die Absurditäten der Welt im Allgemeinen zu sagen – die comicartige Reise dieser Antiheldin gibt keinen Aufschluss; der Grund für ihre innere Qual offenbart sich nur am Rande. Trotz dieser Inkongruenzen macht sich Regisseurin Klaudia Reynicke nie über Seconda lustig, auch wenn ihr teilweise erschütternder Kampf gegen die inneren Dämonen manchmal auch urkomisch ist.
«Am Ende weiss man nicht, was Fiktion und was Realität ist.»
Das Innere eines Menschen ist filmisch nur sehr schwer zu beschreiben. Es braucht gute Ideen, um das neurotisch-zwanghafte Verhalten einer Person nach aussen zu porträtieren. Reynicke ist das zum Teil gelungen, hat sie doch mit Barbara Giordano die perfekte Darstellerin gefunden, um dieses aufgewühlte Seelenleben mit hervorragendem Körpereinsatz abzubilden. Der anfänglich emotionslose Gesichtsausdruck wirkt so echt, dass man richtig mitleidet. Auch die vielen Nahaufnahmen lassen ihr Schauspiel und die sich wandelnde Mimik glaubwürdig und natürlich erscheinen.
Doch die Hälfte des Films der isolierten Tortour im Haus zu widmen, ist eine fragwürdige Entscheidung, da das Ganze dadurch unangenehm langfädig wirkt. Die kurzen Episoden, in denen sich Seconda mutig dem Leben stellt, lockern die Angelegenheit wenigstens auf. Die Zeitebenen dieser Anti-Heldenreise folgen zudem keiner Kontinuität, was verwirrt, da man am Ende nicht weiss, was Fiktion und was Realität ist.
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Kinostart Deutschschweiz: 11.06.2020
Filmfakten: «Love Me Tender» / Regie: Klaudia Reynicke / Mit: Barbara Giordano, Antonio Bannò, Gilles Privat, Federica Vermiglio, Maurizio Tabani, Anna Galante / Schweiz / 83 Minuten
Bild- und Trailerquelle: First Hand Films GmbH
Ein interessanter, aber harziger Ansatz, um das Leben einer Antiheldin zu porträtieren.
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