«Nuevo orden», der sechste Spielfilm des mexikanischen Regisseurs Michel Franco, zeichnet eine abstrakte Dystopie in geschliffener Machart. Der düstere Thriller ist nichts für schwache Gemüter, vertritt dabei aber einen wichtigen Standpunkt: Die kritische Darstellung eines autoritären Systems kann nicht in Watte gepackt werden, wenn sie wirksam sein soll.
Die erste Einstellung des Films zeigt ein Bild: abstrakte Kunst an einer Wand, deren Bedeutung sich einem als Zuschauer*in erst zum Schluss des Films wirklich erschliesst. Vorerst dient die langsame Kamerabewegung vom Bild weg durchs Haus einfach dazu, den Ort zu etablieren: Schauplatz ist eine luxuriöse, moderne Villa, offensichtlich Heim einer mexikanischen Upper-Class-Familie. Sie wird sich nach nicht allzu vielen Minuten in ein Schlachtfeld verwandeln.
Eigentlich soll an diesem Tag aber Marianne (Naian González Norvind) mit Daniel (Diego Boneta) den Bund fürs Leben schliessen. Entsprechend ausgelassen ist die Stimmung. In regelmässigen Intervallen übergibt man dem Brautpaar oder dem Vater der Braut ein Couvert, das daraufhin im Tresor weggeschlossen wird. Die jüngeren Gäste konsumieren Drogen, die ältere Generation tauscht Nettigkeiten und Businesspläne aus. Alle tanzen. Währenddessen sorgt das zahlreiche Dienstpersonal für ein reibungsloses Fest. Die vermeintlich einzigen Dinge, welche die Euphorie zu trüben vermögen, sind die verspätete Standesbeamtin und der ehemalige Bedienstete Rolando (Eligio Meléndez), der um finanzielle Hilfe für seine kranke Frau bittet. Doch plötzlich tauchen Eindringlinge im Garten auf.
«Die jüngeren Gäste konsumieren Drogen, die ältere Generation tauscht Nettigkeiten und Businesspläne aus. Alle tanzen.»
Michel Franco hat seinen Film als zeitgenössische Dystopie konzipiert. Der Klassenkampf und die Staatskorruption, die im Lauf der Erzählung immer stärker in den Vordergrund treten, sind natürlich an reale Begebenheiten und Zustände in Mexiko angelehnt. Das Horrorszenario wird aber auch mit einem gesunden Mass an Abstraktion inszeniert. Will heissen, dass keine konkreten Bezüge zur mexikanischen Geschichte erkennbar sind, – die verschiedenen Gruppen und Klassen bleiben vage, vielleicht auch fast ein wenig generisch, was zu einem Verfremdungseffekt führt.
Hinzu kommt eine weitere Verunsicherung auf dramaturgischer Ebene: Die Frage nach der Protagonist*innenrolle zieht sich durch den ganzen Film und lässt sich bis zum Schluss nicht beantworten. Vielmehr bewegt die Handlung zwischen geschätzt acht Figuren hin und her. Obwohl dies spannend unberechenbar ist, bleibt bei der Erzählweise ab und zu der rote Faden auf der Strecke.
«Der Klassenkampf und die Staatskorruption, die im Lauf der Erzählung immer stärker in den Vordergrund treten, sind natürlich an reale Begebenheiten und Zustände in Mexiko angelehnt. Das Horrorszenario wird aber auch mit einem gesunden Mass an Abstraktion inszeniert.»
«Nuevo orden» gewann in Venedig letztes Jahr den Silbernen Löwen, die zweithöchste Auszeichnung eines der angesehensten Filmfestivals der Welt also. Trotzdem erntete der Film wegen seiner expliziten Gewaltdarstellung und der Darstellung des Klassenkonflikts aus der Perspektive eines weissen Regisseurs einiges an Kritik. Gewisse Kinogänger*innen und Filmkritiker*innen stiessen sich etwa an der Inszenierung der indigenen Mexikaner*innen als mordende und plündernde Meute. Tatsächlich geht «Nuevo orden» so unter die Haut, weil Mord und Totschlag schonungslos und in einer ungewohnten Direktheit dargestellt werden. Dabei wird nicht durch Schnitte zusätzlich Spannung aufgebaut, wie es sich wohl so manches Publikumsmitglied gewohnt ist – ein Eindringling zückt eine Pistole, hält drauf und drückt ab. Durch die temporeiche Inszenierung wirkt das Geschehen auf der Leinwand zusätzlich extrem, was man angesichts der Thematik ehrlich und nötig finden kann, oder eben auch nicht.
«Das erzählerische und moralische Chaos, in das ‹Nuevo orden› letztlich mündet, ist thematisch nötig und funktioniert dank der hohen technischen Qualität des Films.»
Das erzählerische und moralische Chaos, in das «Nuevo orden» letztlich mündet, ist thematisch nötig und funktioniert dank der hohen technischen Qualität des Films. Extrem dynamisch montiert, präzise fotografiert, gelingen temporeiche Bilder, ohne dass das Ganze visuell zu hektisch gerät. Die Erzählung oszilliert zwischen den verschiedenen Figuren, sodass irgendwann überhaupt nicht mehr klar ist, wer denn eigentlich die Hauptfigur sein soll. So schwankt man auch als Zuschauer*in hin und her, verlagert seine Empathie abwechslungsweise und weiss nach einer Weile sowieso nicht mehr, wer denn nun eigentlich die Guten sind. Vielleicht ist es genau diese Unzuverlässigkeit, die ein korruptes System so gefährlich macht: Wenn man nicht mehr weiss, wer eigentlich der Gegner ist, beginnt man gegen alles und jede*n zu kämpfen. Und in «Nuevo orden» gewinnt man als Zuschauer*in spätestens etwa in der Hälfte des Films die Erkenntnis, dass eigentlich fast alle schlecht sind.
Im Abspann wird zuletzt noch deutlich, dass die abstrakte Kunst der Anfangssequenz noch mehr Bedeutung trägt, als nur den Reichtum der Hausbesitzer*innen zu deklarieren: Es ist ein Kunstwerk von Omar Rodriguez-Graham und trägt den Titel «Solo los muertos han visto el final de la guerra» – nur die Toten haben jemals das Ende des Krieges gesehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 12.8.2021
Filmfakten: «Nuevo orden» / Regie: Michel Franco / Mit: Naian González Norvind, Diego Boneta, Mónica Del Carmen, Fernando Cuautle, Darío Yazbek / Mexiko, Frankreich / 88 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite Entertainment
Michel Franco hält dort drauf, wo es richtig wehtut. Obschon aus der Perspektive eines weissen Filmemachers erzählt, vermittelt «Nuevo orden» eine erschreckend universelle Botschaft.
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