Im Lissabonner Elendsviertel Reboleira ist den Bewohnern sogar das Träumen vergangen. Basil Da Cunha porträtiert in «O fim do mundo» in intimen Bildern eine Welt, die von Armut und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. In einer poetischen Bildsprache erzählt er die Geschichte von Spira und seiner Gemeinde, für die es keine Perspektive gibt.
Die Gemeinde Reboleira nördlich von Lissabon soll abgerissen werden. Doch die Bewohner wollen um jeden Preis in ihren ärmlichen Häusern bleiben. An diesen Ort kehrt Spira (Michael Spencer) nach acht Jahren in der Jugendanstalt zurück. Seine Freunde sind Kleindealer, deren gemeinsamer und grösster Feind der Platzhirsch Kikas (Carlos Fonseca) ist. Sie schleichen und trotten umher, bewegen sich in den Gemengen von Festen, stecken Autos in Brand und buhlen scheinbar gleichgültig um die Gunst von Mädchen.
So folgt Spira der schönen Iara (Iara Cardoso) auf Schritt und Tritt. Beide bleiben dabei ohne wirkliche Gefühlsausbrüche. Überhaupt findet zwischen Spira und den Menschen in seiner Nähe kaum ein Gespräch statt. Meistens schweigt er oder stellt rhetorische Fragen. Die Welt – so scheint es fast – interessiert ihn schon lange nicht mehr. Und doch findet man als Zuschauer*in einen intimen Zugang zu ihm, wenn er durch die Gassen streift und ihn die orangen Lichtkegel der Strassenlampen beleuchten. Es ist klar, dass dies sein Zuhause ist, so sicher bewegt er sich in dieser Welt. Ausserdem scheint es auch von Beginn weg eindeutig, dass es für ihn keinen Ausweg gibt.
Der Vergleich mit Fernando Meirelles‘ «City of God» (2002) liegt nahe. Im brasilianischen Vorgänger existieren jedoch Figuren mit Träumen und Ambitionen. Letztere scheinen Spira und seinen Freunden fremd. Gelegentlich redet er mit Iara übers Weggehen. Doch es bleibt unklar, wohin und was danach geschehen könnte. Die Flucht besteht als vages Konzept, was umso mehr den Mangel an Perspektiven für die Bewohner*innen Reboleiras verdeutlicht. Das Gefühl von Hoffnungslosigkeit kann nur von jemandem vermittelt werden, der es selber gut kennt. Und solch eine Intimität im Spielfilm kann nur von jemandem kreiert und bebildert werden, der in diesem Milieu ebenso zu Hause ist.
«Die unspektakuläre Schönheit, mit der Da Cunha die Bewohner Reboleiras inszeniert, erzählt von Verständnis und Zuneigung.»
Der schweizerisch-portugiesische Filmemacher Basil Da Cunha hat selber zwölf Jahre in Reboleira gelebt. Er führte bei diesem Projekt Regie und Kamera, schrieb am Drehbuch mit und beteiligte sich auch an der Montage. Sein Blick und die daraus generierten Bilder zeugen von einem engen Verhältnis zu dieser Gemeinde. Die unspektakuläre Schönheit, mit der Da Cunha die Bewohner Reboleiras inszeniert, erzählt von Verständnis und Zuneigung. Dies alles ist nötig, um die elenden Zustände, das Fehlen jeglicher Perspektive, die Trostlosigkeit einer ganzen Gemeinde glaubhaft zu erzählen und nicht ins Voyeuristische abzudriften. Die konsequent dokumentarisch anmutende Kameraarbeit trägt zu einem grossen Teil dazu bei, dass die Protagonist*innen nachvollziehbar bleiben. Zu Recht hat Da Cunha für seine Fotografie den diesjährigen Schweizer Filmpreis gewonnen.
«Man raubt, man dealt, beschuldigt sich diverser Delikte; man tötet Hunde und irgendwann auch Menschen.»
Während alle Bewohner streiten und kleine Fehden austragen, wird Spira zum lethargischen Antihelden stilisiert. Er absorbiert das Geschehen um ihn herum mit einem Ausdruck von Abscheu und Desinteresse. Die Lethargie des Protagonisten führt leider auch zu gewissen Längen in der Geschichte des Films. Der fortwährende Kampf der Bewohner Reboleiras gegen den Staat schlägt sich in einer Grundstimmung von Frust und Aggression nieder. Man raubt, man dealt, beschuldigt sich diverser Delikte; man tötet Hunde und irgendwann auch Menschen. Die Figuren sind zu unheimlichen Zombies geraten. Dabei läuft man als Zuschauer*in Gefahr, auch irgendwann abzustumpfen. «O fim do mundo» bedeutet übersetzt «Das Ende einer Welt». In Basil Da Cunhas Film scheint die Welt aber schon längst untergegangen zu sein.
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Kinostart Deutschschweiz: 2.7.2020
Filmfakten: «O fim do mundo» / Regie: Basil Da Cunha / Mit: Michael Spencer, Marco Joel Fernandes, Alexandre Da Costa Fonseca, Iara Cardoso, Carlos Fonseca, Luisa Martins Dos Santos / Schweiz / 107 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Sister Distribution
Eine intime Inszenierung der Peripherie Lissabons. Die Figuren erlangen durch die Kameraarbeit eine Schönheit, die leider nicht ganz über die langatmige Erzählung hinwegtäuscht.
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