Kann die Begegnung mit den biologischen Eltern die Wunden adoptierter Kinder im Erwachsenenalter heilen? Oder ist das der Zeitpunkt, an dem die Probleme erst richtig beginnen? Der französisch-kambodschanische Regisseur Davy Chou nimmt sich in «Retour à Séoul» des langen Schattens der Massenadoption an, die sich in Südkorea zu Zeiten der weit verbreiteten Armut abspielte – und in deren Zug sehr viele Menschen ihre Kinder weggeben mussten. Für die in Frankreich aufgewachsene 25-Jährige Freddie endet die Suche nach ihren Eltern in einer Suche nach sich selbst, fernab von der romantischen Vorstellung, dass ein Wiedersehen die Wunden des inneren Kindes heilt.
Zwischen 1958 und 2004 wurden 221’190 südkoreanische Kinder in gecharterte Flüge gesetzt und nach Übersee zu ihren Adoptiveltern gebracht. Obwohl diese internationale Massenadoption aus der Zeit vor dem Wirtschaftsaufschwung im heute gut situierten Südkorea immer noch ein Tabuthema ist, beginnen Filmemacher wie Justin Chon («Blue Bayou») oder eben Davy Chou damit, sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das ist auch wichtig, werden adoptierte Kinder in der südkoreanischen Gesellschaft doch nach wie vor als minderwertig angesehen, da sie den Ruf haben, stabile Familienidylle zu stören.
In «Retour à Séoul» muss die Französin Freddie (Park Ji-min) wegen eines Sturms in Seoul zwischenlanden. Sie checkt in ein Hotel ein, freundet sich sogleich mit Gastgeberin Tena (Guka Han) an und wird von ihr in ein Restaurant eingeladen. Freddie spricht weder Koreanisch, noch hat sie sich jemals näher mit dieser Kultur auseinandergesetzt, und überschreitet entsprechend schon am ersten Abend Grenzen der koreanischen Höflichkeit und beginnt, über ihre Identität nachzudenken, als jemand ihr Gesicht als «typisch altkoreanisch» lobt.
Da Freddie nicht so recht weiss, was sie in Seoul überhaupt machen soll, nimmt sie die Suche nach ihren biologischen Eltern auf. Schon nach ein paar Tagen trifft sie ihren Vater (Oh Kwang-rok) und seine Familie; von Freddies Mutter ist er seit Jahren getrennt. Doch die Begegnung ist verstörend: Freddies biologischer Vater, beschämt darüber, dass er einst seine erste Tochter weggab, ertränkt seine Reue im Alkohol und versucht, alles wiedergutzumachen. Er führt sie an wichtige Orte der familiären Vergangenheit, schickt ihr Selbstkomponiertes aufs Handy, legt ihr nahe, im Land zu bleiben und einen guten koreanischen Mann zu heiraten, und reagiert zunehmend gereizt auf Freddies Widerwillen, was Tena wiederum in koreanische Höflichkeiten übersetzen muss. Und auch Grossmutter (Hur Ouk-sook) und Tante (Kim Sun-young) drängen sich auf.
«Ist die Kultur, in die sie hineingeboren wurde, die ihre, oder etwa die, in der sie aufgewachsen ist? Wo gehört sie letztendlich hin?»
Davy Chous Film beruht auf auf der Geschichte einer Freundin, die ebenfalls als einjähriges Kind von einer französischen Familie adoptiert wurde, und im Alter von 25 Jahren nach Südkorea reiste, ohne die Sprache zu sprechen oder die Kultur zu verstehen. Es ist eine ungewöhnliche Protagonistinnenwahl: Freddies abweisende Gestik macht es dem Publikum schwer, sie zu verstehen, geschweige denn sie zu mögen. Doch das ist auch das Spannende an «Retour à Séoul»: Die Geschichte zeigt, wie eine grenzüberschreitende, selbstbewusste junge Frau, die ein liebevolles Verhältnis zu ihren Adoptiveltern pflegt, auf der Suche nach ihren Wurzeln über die unentrinnbare Frage stolpert, ob sie das überhaupt will. Ist die Kultur, in die sie hineingeboren wurde, die ihre, oder etwa die, in der sie aufgewachsen ist? Wo gehört sie letztendlich hin?
Chou selbst immigrierte als achtjähriger Junge mit seinen Eltern aus Kambodscha nach Frankreich und besuchte sein Geburtsland erst als Erwachsener zum ersten Mal. Im Gegensatz zu seiner Protagonistin blieb er aber mit seinen biologischen Eltern zusammen. Dieser persönliche Bezug ist spürbar im Film; das Drehbuch verfasste er mit der Hilfe von Laure Badufle geschrieben, der Freundin, die als Baby adoptiert worden war.
Hauptdarstellerin Park Ji-min wiederum hatte vor diesem Film noch nie vor der Kamera gestanden, verkörpert Freddies Persönlichkeit entsprechend teilweise etwas unsicher, glänzt dafür in den vielen Nahaufnahmen, die über die EntwicklungeN ihrer Gefühle mehr aussagen, als das kommunikative Durcheinander auf Französisch, Koreanisch und Englisch.
Die Handlung, die sich über acht Jahre erstreckt, ist ein klassisches Exemplar der Gattung des Selbstfindungsdramas, das derzeit häufig im Kino zu sehen sind – aktuell etwa «Before, Now & Then» von Kamila Andini. «Retour à Séoul» ist voll von den typischen Anzeichen für dieses Weltkino-«Genre», vom fast schon obsessiven Zurückkehren ins schicksalhafte Seoul über das metaphorisch bedeutsame Abschneiden der eigenen Haare bis hin zum selbstvergessenen Tanz im Club. Da hätte Chou mehr aussparen und kürzen dürfen, denn die eindrücklichen Bilder, meist in blauen Schattierungen gehalten, sowie die eindrückliche Musik fangen Freddies zwiespältige Emotionen besser ein als konventionelle Sentimentalitäten.
«Die eindrücklichen Bilder, meist in blauen Schattierungen gehalten, sowie die eindrückliche Musik fangen Freddies zwiespältige Emotionen besser ein als konventionelle Sentimentalitäten.»
Trotzdem gelingt es Chou insgesamt, anregend minimalistisch zu bleiben und die Welt mit den emotionalen Untiefen der südkoreanischen Adoptionsvergangenheit – und -gegenwart – zu konfrontieren. Als Freddie irgendwann mit ihrer Adoptivmutter in Frankreich telefoniert, sagt sie ihr: «Ich glaube, ich bin glücklich.» Schwer zu glauben.
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Kinostart Deutschschweiz: 26.1.2023
Filmfakten: «Retour à Séoul» / Regie: Davy Chou / Mit: Park Ji-min, Oh Kwang-rok, Guka Han, Choi Cho-woo, Kim Sun-young, Yoann Zimmer, Louis-Do de Lencquesaing / Frankreich, Belgien, Deutschland, Kambodscha / 116 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films
Davy Chous «Retour à Séoul» ist ein Selbstfindungsdrama mit konventioneller Prämisse, das sich emotional anregend mit Südkoreas komplexer Adoptionsvergangenheit auseinandersetzt.
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