Ein Sommer an der Ostsee. Vier Mittzwanziger, die mit sich selbst und ihrem individuellen Streben nach Glück beschäftigt sind. Über sie hinweg fliegen die Löschflugzeuge – Boten des Waldbrands, der am Horizont wütet. Aus dieser Ausgangslage versucht Christian Petzold in seinem neuen Film «Roter Himmel» eine gewagte Symbiose aus flirrendem Sommerfilm und Analogie auf die Klimakrise.
Die beiden Künstlerfreunde Leon (Thomas Schubert) und Felix (Langston Uibel) fahren in den Sommerferien zum Ferienhaus von Felix‘ Mutter an der Ostsee. Während Felix dort an seiner Abschlussarbeit für die Kunsthochschule arbeiten muss, will Leon seinen zweiten Roman fertigstellen. Leons Hoffnungen auf ein ruhiges Idyll, das es ihm erlaubt, konzentriert zu arbeiten, geraten bereits während der Hinfahrt ins Bröckeln. Einige Kilometer vor dem Ziel macht ihr Wagen schlapp, woraufhin Leon und Felix mehrere Stunden lang durch den Wald irren.
Die nächste böse Überraschung folgt auf den Fuss: Denn wie sich herausstellt, hat Felix‘ Mutter noch einen weiteren Gast in ihrem Ferienhaus einquartiert. Dieser Gast heisst Nadja (Paula Beer) und raubt Leon in den ersten beiden Nächten mit ihrem lauten Liebesleben den Schlaf. Während sich Felix rasch mit Nadja und ihrem Liebhaber, dem Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) anfreundet, kapselt sich Leon von der Gruppe ab und sorgt mit seinem miesepetrigen Verhalten immer wieder für Unmut. Und dann kündigt sich auch noch Leons Verleger (Matthias Brandt) für einen Besuch an, um mit ihm sein Manuskript durchzugehen.
Wäre das nicht schon genug, wüten in einigen Kilometern Entfernung zudem heftige Waldbrände. Doch in der Überzeugung, vor der Feuersbrunst sicher zu sein, ignorieren die vier Mittzwanziger die nahende Gefahr und beschäftigten sich stattdessen ganz mit sich selbst, ihren Gefühlen, Wünschen und Sorgen sowie der aufkeimenden Liebe. Doch das Gefühl der Sicherheit entpuppt sich als gefährlicher Trugschluss mit brutalen Konsequenzen.

Thomas Schubert in «Roter Himmel» / © Filmcoopi Zürich AG
Mit dem griesgrämigen Leon als Hauptfigur macht es Christian Petzold («Barbara», «Transit», «Undine») sich und seinem Publikum nicht gerade leicht. Denn dieser sich in seiner Künstlerblase um sich selbst drehende Leon ist alles andere als ein typischer Sympathieträger. Dieser Leon kann echt nerven – nicht nur seine Freunde im Film, sondern auch das Publikum. Ständig nörgelt er herum, redet davon, arbeiten zu müssen, prokrastiniert aber dann doch bloss wieder vor sich hin. Neidisch schaut er zu, wie die anderen drei Spass haben, schlägt aber wiederholt ihre Einladungen aus, daran teilzunehmen.
«Mit dem griesgrämigen Leon als Hauptfigur macht es Christian Petzold sich und seinem Publikum nicht gerade leicht.»
Ja, dieser Leon macht es einem alles andere als einfach, ihn zu mögen. Und doch schaffen es Petzold und sein Hauptdarsteller Thomas Schubert («Atmen»), stets das letzte bisschen Sympathie für Leon im Publikum aufrechtzuerhalten. Mit seinem nuancierten Spiel macht Schubert spürbar, dass sich Leons unsägliches Gehabe eben nicht nur aus künstlerischem Narzissmus, sondern vor allem auch aus Versagensängsten und sozialen Unsicherheiten speist. Immer wieder ist ihm deutlich anzusehen, wie er selbst darunter leidet, und sich für sein eigenes Verhalten verachtet. Er will ausbrechen, schafft es aber nicht. Diese Zerrissenheit und seine unbedarften Versuche, daran etwas zu ändern, münden dabei in so manch amüsanter Szene.
Nadja setzt mit ihrer offenen, lebensfrohen Art den armen Leon dabei noch mehr unter Druck, verliebt er sich doch Hals über Kopf in sie. Paula Beer («Frantz», «Werk ohne Autor») verkörpert die Rolle Nadjas mit einem umwerfenden Charme, dem man sich nur schwer entziehen kann. Zugleich umgibt sie von Beginn an etwas Geheimnisvolles. Dass unter der Oberfläche der fröhlichen jungen Frau mehr steckt, sich darunter düstere, ernste Seiten verbergen, deutet sich immer wieder an, sei es in ihren Blicken, einer sich verändernden Stimmlage oder in kurzen Momenten des aufbrausenden Furors.

Paula Beer in «Roter Himmel» / © Filmcoopi Zürich AG
Während sich die Beziehung zwischen Nadja und Leon als äusserst kompliziert erweist, verlieben sich Felix und David geradezu beiläufig ineinander. Ohne grosse Gesten und Worte spielt sich diese kleine Liebesgeschichte ab und fügt sich auf ganz natürliche Weise in die Urlaubsidylle ein. Überhaupt zeichnet sich das (Zusammen-)Spiel des Ensembles durch eine erfrischende Natürlichkeit aus.
Zu den vier Mittzwanzigern stösst in der zweiten Filmhälfte dann auch noch Matthias Brandt in der Rolle von Leons Verleger hinzu, der sich in der Gruppe der jungen Erwachsenen schnell sichtlich wohlfühlt. Die schiere Herzenswärme, die Brandt seiner Figur in seinen wenigen Szenen einhaucht, und wie er dabei eine sanfte Verletzlichkeit durchschimmern lässt, ist fantastisch.
«An dieser Stelle könnte man abschliessend festhalten, Petzold und seinem Team sei ein wunderbares Ensembledrama im Gewand eines Sommerfilms gelungen. Doch ‹Roter Himmel› will mehr sein als das.»
An dieser Stelle könnte man abschliessend festhalten, Petzold und seinem Team sei ein wunderbares Ensembledrama im Gewand eines Sommerfilms gelungen. Doch «Roter Himmel» will mehr sein als das. Denn da ist eine zweite Ebene, auf der es Petzold um die Frage geht, wie wir mit der immer näher kommenden Klimakrise umgehen? Können wir uns noch auf die gleiche Weise wie früher unseren individuellen Wünschen und Sorgen widmen und die sich abzeichnenden katastrophalen Veränderungen einfach ignorieren?
In «Roter Himmel» ist es der Waldbrand, der wütet. Schon in den ersten Filmminuten fliegt ein Löschflugzeug über die Köpfe unserer Protagonist*innen hinweg; später schauen sie vom Dach des Sommerhauses aus auf das in der Ferne lodernde Feuer. Ein erhabenes Naturschauspiel, das in ihren Augen weit weg zu sein scheint. Anstatt sich näher mit den möglichen Risiken auseinanderzusetzen, führen sie lieber ihre Gespräche mit dem Weinglas in der Hand, lachen, streiten, gehen baden oder widmen sich ihren in Wallung geratenen Gefühlen.

Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel und Enno Trebs in «Roter Himmel» / © Filmcoopi Zürich AG
«Petzold erzählt von einer Generation, deren Streben nach individuellem Glück, danach, das Leben in vollen Zügen zu geniessen, mit einer herannahenden Klimakatastrophe kollidiert.»
Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, Petzold vorzuwerfen, arg plump vorzugehen, mit seinen mit sich selbst beschäftigten jungen Menschen, welche die nahende Katastrophe ignorieren. Doch bei genauerem Hinsehen merkt man bald, dass Petzold eben genau das nicht tut. Er urteilt nicht über seine Figuren – er stellt bloss fest, dass sie anscheinend nicht in der Lage sind, die nahende Gefahr rechtzeitig zu erkennen. Darin steckt die ganze Tragödie. Petzold erzählt von einer Generation, deren Streben nach individuellem Glück, danach, das Leben in vollen Zügen zu geniessen, mit einer herannahenden Klimakatastrophe kollidiert. Diese vermeintliche Sorglosigkeit seiner Protagonist*innen findet im Film ein jähes Ende, als das Feuer über sie hereinbricht – eine Zäsur, die Petzold mit einem inszenatorischen Kniff unterstreicht, der hier nicht vorweggenommen werden soll. Nur so viel: Statt auf Thrill und Spektakel setzt er auf Entschleunigung und Stille.
Mit «Roter Himmel» ist Petzold und seinem Team ein wunderbares Kleinod gelungen: sowohl ein präzise geschriebenes und gespieltes Ensembledrama als auch ein kluges Porträt einer Generation, deren Streben nach Glück von der immer näher rückenden Klimakrise überschattet wird.
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Filmfakten : «Roter Himmel» / Regie: Christian Petzold / Mit: Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, Enno Trebs, Matthias Brandt / Deutschland / 103 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
In Christian Petzolds «Roter Himmel» brodelt es: zwischen den Figuren, im Innern der Figuren und um sie herum. Das ist schön gefilmt, klug geschrieben, präzise beobachtet und toll gespielt.
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