Seit den Achtzigerjahren greift in der kommunistischen Volksrepublik China die Kapital-Wirtschaft um sich. In seinem Dokumentarfilm „The Other Half of the Sky“ porträtiert Patrik Soergel vier Frauen, die diesen Wandel miterlebt und mitgeformt haben und jetzt davon profitieren.
Es lohnt sich, einen Blick auf die Langform des Filmtitels zu werfen: Unter dem abstrakt wirkenden „The Other Half of the Sky“ verbirgt sich nämlich der Untertitel „Stories of Chinese Businesswomen“. Besser liesse sich Soergels Projekt nicht zusammenfassen. Auf detaillierte Rückblenden und gross angelegte historische Kontextualisierungen wird verzichtet; im Mittelpunkt stehen die vier Protagonistinnen, die in ihren freien Minuten zwischen Vorstandssitzung und internationaler Konferenz aus ihrem Geschäfts- und Privatleben erzählen.
Da wäre etwa Zhou Yi, die Vizepräsidentin von IBM China, die beschreibt, wie ihre Firma mit chinesischer Direktheit den Rivalen aus Japan die amerikanischen Kunden abspenstig macht. Yang Lan wiederum hat sich innert 15 Jahren vom hübschen Talkshow-Girl zur mächtigsten Medien-Mogulin des Landes aufgeschwungen. Dong Mingzhu, CEO des Klimaanlagen-Herstellers Gree, erinnert sich daran, wie ihr Unternehmen die Kleinstadt Zhuhai in eine blühende Metropole verwandelt hat, und unterstreicht den Wert von bedingungslosem Ehrgeiz: Nach eigenen Angaben hat sie sich noch nie einen Tag frei genommen. Und dann ist da noch die Restaurant-Magnatin Zhang Lan, die in ihrem Heimatland in die Kritik geriet, als sie sich aus Steuergründen im Karibikstaat St. Kitts und Nevis einbürgern liess – es scheint, als sprengten gewisse wirtschaftliche Ambitionen die Grenzen der Volksrepublik.
„The Other Half of the Sky“ ist eine spannende Momentaufnahme eines Landes, das versucht, tausende Jahre Tradition, ein halbes Jahrhundert dogmatischer Ideologie und die damit nur schwer zu vereinbarenden Anforderungen einer Kapitalgesellschaft unter einen Hut zu bringen. Das bringt neue Möglichkeiten – gerade für Frauen –, verwässert aber auch die nationale Identität, die so oft als Grundpfeiler der Weltmacht China genannt wird. Es ist Soergel hoch anzurechnen, dass er die Vermittlung und Interpretation dieser Geschichte unkommentiert den Macherinnen der chinesischen Zukunft in die Hände legt – ohne Kommentar, ohne externen Blick.
Aber man fragt sich doch, wo das berechtigte Lob für Deng Xiaopings Reformen aufhört und die Romantisierung der kapitalistischen Ungleichheit beginnt. Es böte sich an, „The Other Half of the Sky“ im Doppelprogramm mit einem Drama Jia Zhangkes – vorzugsweise „A Touch of Sin“ oder „Mountains May Depart“ – zu sehen. Die von Soergels Wirtschaftswunder-Gewinnern so oft beschworene Dynamik des modernen China lässt sich erst dann so richtig einordnen, wenn man auch die Seite von Jias Verlierern kennengelernt hat.
„The Other Half of the Sky“ läuft im Rahmen des Zürich Film Festivals am 26. September (18.30 Uhr) im Corso 4, am 1. Oktober (15.30 Uhr) im Arthouse Piccadilly sowie am 2. Oktober (15.30 Uhr) im Corso 4.
„The Other Half of the Sky“ / Regie: Patrik Soergel / Schweiz / 80 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Zürich Film Festival
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