Im Schatten eines hängigen Prozesses gegen ihn hat Regisseur Mohammad Rasoulof, ein langjähriger Kritiker des iranischen Regimes, «There Is No Evil» gedreht – einen geduldigen, erschütternd präzisen Kurzfilmzyklus darüber, wie im Iran Wehrpflicht und Todesstrafe zur Aushöhlung der Zivilgesellschaft beitragen.
1963 prägte die Philosophin Hannah Arendt in ihrem viel diskutierten Bericht zum Prozess gegen den NS-Beamten Adolf Eichmann den Begriff der «Banalität des Bösen»: «Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth», erklärte sie darin, «und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschliessen, ‹ein Bösewicht zu werden›». Eichmanns Rolle in der bürokratischen Maschinerie hinter dem Holocaust sei nicht die eines machtbesessenen, sadistischen Wahnsinnigen gewesen, sondern die eines nicht weiter bemerkenswerten Bürogummis mit «einer ganz gewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte». Das Böse entspringt dem Banalen; es braucht Menschen, die leidenschaftslos das tun, was von ihnen verlangt und erwartet wird.
Es ist gut vorstellbar, dass Arendt allermindestens für den Titel zu Mohammad Rasoulofs neuem Film Patin stand: «There Is No Evil» – in Deutschland als «Doch das Böse gibt es nicht» vertrieben – beleuchtet, wie es das iranische System tagtäglich schafft, ganz normale Menschen in den Dienst des Bösen zu stellen.
«Ausser der Volksrepublik China macht kein Land der Welt so oft Gebrauch von der Todesstrafe wie der Iran, wo jedes Jahr Hunderte von Menschen hingerichtet werden, viele davon im Geheimen.»
Ausser der Volksrepublik China macht kein Land der Welt so oft Gebrauch von der Todesstrafe wie der Iran, wo jedes Jahr Hunderte von Menschen hingerichtet werden, viele davon im Geheimen. Der Arendt’sche Clou dabei: Rekruten der iranischen Armee werden als Teil ihrer zweijährigen Wehrpflicht als Henker eingespannt. Die zum Tode Verurteilten – darunter auch Regierungskritiker – werden ihnen als Mörder und Vergewaltiger verkauft. Wer sich der Wehrpflicht entziehen will, wandert selber ins Gefängnis und verwirkt somit sämtliche Rechte auf eine Teilnahme am öffentlichen Leben: kein Führerschein, keine Arbeitsbewilligung, kein Pass.
In vier aneinandergereihten Kurzfilmen – ein Format, das wohl dazu diente, bei der staatlichen Zensur kein Misstrauen zu wecken – erzählt Rasoulof, wie diese kafkaesken Verstrickungen das soziale Gefüge des Irans korrodieren. Von einem unspektakulären Tag im Leben eines unauffälligen Familienvaters (Ehsan Mirhosseini) arbeitet sich «There Is No Evil» vor zu einem intensiven Militär-Kammerspiel, einer reservierten Liebestragödie und schliesslich einem interkontinentalen Familiendrama. Der Bezug zur Todesstrafe wird mit jeder Geschichte abstrakter, das kollektive Trauma dafür umso konkreter: Die buchstäbliche Staatsgewalt sickert unaufhaltsam in die Bevölkerung. Eine Gesellschaft schafft sich moralisch und emotional ab, Hinrichtung für Hinrichtung.
«Von einem unspektakulären Tag im Leben eines unauffälligen Familienvaters arbeitet sich ‹There Is No Evil› vor zu einem intensiven Militär-Kammerspiel, einer reservierten Liebestragödie und schliesslich einem interkontinentalen Familiendrama.»
Rasoulof, der zusammen mit Jafar Panahi («This Is Not a Film», «3 Faces») und Asghar Farhadi («A Separation», «The Salesman») wohl zu den wichtigsten iranischen Regisseuren der Gegenwart gehört, inszeniert diesen veritablen Totentanz als subtiles, präzises Drama. Wann immer sich die Episoden inhaltlich in melodramatische Gefilde bewegen, so etwa im dritten Segment, belässt es Rasoulof dabei, die Emotionen knapp unter der Oberfläche schwelen zu lassen – wie schon Meisterregisseur Abbas Kiarostami («Close-Up», «Like Someone in Love») ist auch er sich der Kraft des bedeutungsschwangeren Schweigens bewusst. Für das nötige Pathos sorgt, quasi als Ersatzhandlung, die herausragende Musik von Amir Molookpour.
An sich genügt schon die blosse Tatsache, dass dieser Film existiert, als Grund, ins Kino zu gehen. Rasoulof kämpft seit 2010 mit der iranischen Regierung; im Frühjahr wurde er nach einem langen Rechtsstreit zu einem Jahr Gefängnis und zwei Jahren Arbeitsverbot verurteilt. Wie bei Jafar Panahi, der sich in einer ähnlichen Lage befindet, ist auch hier internationale Aufmerksamkeit eines der Mittel, um Rasoulof womöglich noch schlimmere Repressalien zu ersparen. Doch «There Is No Evil» belohnt diese Aufmerksamkeit mit einem eindringlichen, anregenden, subtanziellen Kinoerlebnis.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.10.2020
Filmfakten: «There Is No Evil» («شیطان وجود ندارد», «Sheytân vojūd nadârad») / Regie: Mohammad Rasoulof / Mit: Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar, Alireza Zareparast, Mohammad Valizadegan, Mohammad Seddighimehr, Jila Shahi, Baran Rasoulof / Iran / 150 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Trigon Film
Mohammad Rasoulof befasst sich auf eine erzählerisch hochgradig originelle Weise mit der iranischen Todesstrafe. Sein Porträt eines zutiefst traumatisierten Landes beeindruckt und erschüttert.
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