Zwei, drei Klicks im Internet, und schon wenige Tage später liegt das ersehnte Päckchen vor der Haustür. Der Frage, welche menschlichen Kosten hinter diesem Konsumverhalten stehen, widmet sich Laura Carreira in ihrem eindrucksvollen Spielfilmdebüt «On Falling».
Im schottischen Edinburgh arbeitet die junge Portugiesin Aurora (Joana Santos), als «Pickerin» in einem riesigen Warenlager. Mit einem Barcodescanner in der Hand durchquert sie die scheinbar endlosen Regalreihen, wo sie die Bestellungen für den Versand heraussucht. Dabei befindet sie sich stets im Rennen gegen die Uhr. Braucht sie zu lange, um eine Bestellung zu finden, schlägt der Warenscanner Alarm. Ist ihre Leistung ungenügend, wird sie ins Büro ihres knabenhaften Vorgesetzten zitiert. Für gute Leistungen winkt als Belohnung anstatt einer Gehaltsaufbesserung ein Schokoriegel nach Wahl.
Weil ihr Einkommen nicht für eine eigene Wohnung reicht, lebt Aurora in einer Wohngemeinschaft. Doch ihre Mitbewohner*innen bekommt sie aufgrund der unterschiedlich getakteten Arbeitstage kaum zu Gesicht. So leidet Aurora nicht nur unter ihrer prekären Arbeitssituatin Aurora, sondern zunehmend auch unter sozialer Isolation. Auch die kurzen Mittagspausen in der sterilen Kantine bieten keinen Raum für echte zwischenmenschliche Begegnung – sie dienen einzig der Nahrungsaufnahme, um die körperliche Leistungsfähigkeit der Beschäftigten aufrechtzuerhalten. Etwas Hoffnung schöpft Aurora allerdings, als sie sich auf einen Job in der Sozialarbeit bewirbt, und mit Kris (Piotr Sikora), einem geselligen Polen, der neu in die WG einzieht.

Joana Santos in «On Falling» / © Frenetic Films AG
Wie die Frage, was Aurora in ihrer Freizeit macht, die Portugiesin im Lauf der Handlung mehrfach in sichtbare Bedrängnis bringt, steht exemplarisch für die tiefgreifenden Auswirkungen prekärer Arbeit. Psychisch und physisch ausgelaugt, mit einem Lohn, der gerade so ausreicht, um über die Runden zu kommen, bleiben einem eben keine Ressourcen, sich ein «Leben neben der Arbeit» zu gestalten. Für Aussenstehende nicht sichtbar lebt Aurora stets einen Schritt vom Abgrund entfernt.
Was die Situation noch verzweifelter wirken lässt, ist die Tatsache, dass Aurora kaum Handlungsoptionen bleiben, um sich selbstständig aus ihrer Situation zu befreien. Wie soll sie einen besseren Job finden, wenn ihr vom Arbeitgeber nicht erlaubt wird, sich für ein Bewerbungsgespräch freizunehmen? Wie soll sie Kontakte knüpfen, wenn sie keine Energie und kein Geld hat, um an Freizeitaktivitäten teilzunehmen?
«Doch handelt es sich hierbei eben gerade nicht um die Vision einer entfernten düsteren Zukunft, sondern um einen Blick hinter die Kulissen des Hier und Jetzt.»
Regisseurin Laura Carreira, die auch das Drehbuch geschrieben hat, erzählt das alles gänzlich unsentimental. Ihr Blick ist von tiefer Empathie geprägt. Dabei versucht sie aber weder, beim Publikum Mitleid zu erregen, noch hat es der Film nötig, Auroras schwierige Lebensumstände effekthascherisch zu dramatisieren. In ruhigen, fast beiläufigen Bildern zeigt Carreira Auroras Alltag und wie er mit seinem gleichbleibend hoffnungslosen Trott aus prekärer Werkarbeit und Alleinsein die junge Frau mehr und mehr zermürbt.
Eine eigenwillige Poesie entfalten insbesondere die Szenen an Auroras Arbeitsplatz. Die riesige Halle mit ihren riesigen Regalschluchten voller Spielzeug, Elektronik und Haushaltswaren, durch die Aurora – stets vom Arbeitgeber überwacht – wandert, könnte ebenso gut aus einem dystopischen Science-Fiction-Film stammen. Doch handelt es sich hierbei eben gerade nicht um die Vision einer entfernten düsteren Zukunft, sondern um einen Blick hinter die Kulissen des Hier und Jetzt, um den Arbeitsalltag von zig Millionen Menschen heute, zu dessen Realität wir mit unserem Konsumverhalten tagtäglich beitragen.

Joana Santos und Piotr Sikora in «On Falling» / © Frenetic Films AG
Einen wesentlichen Anteil am Gelingen des Films trägt Hauptdarstellerin Joana Santos mit ihrer ebenso charismatischen wie zurückhaltenden Darstellung bei. Ihr gelingt es, die in sich gekehrte Aurora gleichermassen mit stiller Würde wie spürbarer Verletzlichkeit darzustellen, und trotz ihrer an den Tag gelegten Verschlossenheit, den in ihr anwachsenden emotionalen Aufruhr, ihre Verzweiflung greifbar zu machen.
«Wie Ken Loach versteht es auch Carreira, mit einer grossen Empathie für ihre Figuren deren Lebensrealität präzise zu porträtieren und dabei soziale Missstände offenzulegen.»
Es ist sicherlich kein Zufall, dass Laura Carreiras Spielfilmdebüt von Ken Loachs Produktionsfirma Sixteen Films koproduziert wurde. Denn wie Loach («I, Daniel Blake», «Sorry We Missed You») versteht es auch Carreira, mit einer grossen Empathie für ihre Figuren deren Lebensrealität präzise zu porträtieren und dabei soziale Missstände offenzulegen. Doch sie tut dies mit einer bemerkenswerten Eigenständigkeit – einer ruhigen, stilsicheren Inszenierung, mit der sie und ihre Hauptdarstellerin es schaffen, dem bedrückenden Blick hinter die Kulissen unserer Konsumgesellschaft und auf die Lebenswirklichkeit von prekär Beschäftigten poetische Sogkraft zu verleihen.
–––
Kinostart Deutschschweiz: 12.6.2025.
Filmfakten: «On Falling» / Regie: Laura Carreira/ mit: Joana Santos, Inês Vaz, Piotr Sikora / Grossbritannien, Portugal 2024 / 104 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
Laura Carreira wirft in «On Falling» einen prüfenden, erschütternden Blick hinter die Kulissen einer aus dem Ruder gelaufenen Konsumwirtschaft.
No Comments