Eine Spurensuche der besonderen Art: Die heiss erwartete Roadmovie-Tragikomödie «A Real Pain» von und mit Jesse Eisenberg begleitet ein ungleiches Cousin-Paar auf grosser Reise durch Polen, um die Herkunft ihrer verstorbenen Grossmutter zu würdigen, die im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis fliehen musste. Unterwegs kristallisiert sich schnell heraus, dass die Holocaust-Tour aber bei weitem nicht das Einzige ist, was die beiden (und den Rest der bunt zusammengewürfelten Reisegruppe) aufwühlt.
Wie meistere ich die Probleme des modernen Alltags, ohne den Respekt gegenüber dem historischen Trauma meiner Vorfahren zu verlieren? Eine hochkomplexe Frage, die den amerikanischen Schauspieler und Filmemacher Jesse Eisenberg («The Social Network», «Zombieland») schon lange beschäftigt. Als säkularer Jude mit polnischen Wurzeln sind das Überleben des Holocausts und die Flucht der eigenen Familie fest in seiner Familiengeschichte verankert – und doch gefühlt ganz weit weg. Genau dieser persönliche Konflikt gab ihm den Anstoss zum Drehbuch für «A Real Pain».
Im Zentrum der Handlung stehen die Cousins David (Eisenberg) und Benji (Kieran Culkin). Als Kinder waren sie unzertrennlich, doch heute könnten ihre Lebensentwürfe nicht unterschiedlicher sein: Während David sein durchgetaktetes Leben als Familienvater und Verkäufer von Onlinewerbung voll auskostet, driftet Benji als kiffender Freigeist rastlos durchs Leben. Das Einzige, was die beiden noch verbindet, ist ihre gemeinsame Herkunft als amerikanische Juden.
Genau diese Gemeinsamkeit führt das ungleiche Duo auf eine Gruppenreise durch Polen, die den Zweiten Weltkrieg aufarbeitet und an verschiedene Schauplätzen führt. Einerseits möchten sie so die Wurzeln ihrer kürzlich verstorbenen Grossmutter ehren, die vor den Nazis nach Amerika fliehen musste. Andererseits hoffen sie, den dunkelsten Teil ihrer Familiengeschichte besser zu verstehen.

Jesse Eisenberg und Kieran Culkin in «A Real Pain» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Wenig überraschend ist «A Real Pain» dabei nicht nur Titel, sondern auch Programm. Schmerzvoll sind die Schilderungen des britischen Fremdenführers James (Will Sharpe), brutal der Besuch eines jüdischen Friedhofs und ehemaligen Konzentrationslagers. Doch die zentrale Thematik des Schmerzes geht weit über den historischen Kontext hinaus – und genau das macht diesen Film so besonders. Die Beziehung zwischen den beiden Cousins ist zerrüttet und kompliziert: Benji wirft David vor, ihn komplett vergessen zu haben. Dieser wiederum wünscht sich nur ein Prozent des Charismas und der Coolness seines Gegenübers.
«Die zentrale Thematik des Schmerzes geht weit über den historischen Kontext hinaus – und genau das macht diesen Film so besonders.»
Hinzu kommt, dass alle anderen Personen in der Reisegruppe ebenfalls ihre eigenen Erfahrungen – und somit auch einen ganz persönlichen Blickwinkel – mitbringen. Eloge (Kurt Egyiawan) ist ein ruandisch-kanadischer Konvertit, der in den Neunzigerjahren dem Völkermord an den Tutsi entkam. Marcia (Jennifer Grey) sucht Ablenkung, nachdem ihre Beziehung in die Brüche ging. Das pensionierte Ehepaar Diane (Liza Sadovy) und Mark (Daniel Oreskes) hat sich einfach aus Interesse angemeldet.
Dieses Potpourri aus koexistierenden Realitäten spiegelt nicht nur das Leben auf authentische Weise wider, sondern sorgt für zahlreiche Diskussionen – meist ausgelöst von Benji, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Während alle anderen selbstverständlich in der 1. Klasse des Zuges Platz nehmen, um zum nächsten Schauplatz zu reisen, weist er empört auf die Absurdität der Situation hin. Auch den Kommentar über die zu hohe Lautstärke der jüdischen Klaviermusik im Restaurant empfindet er als anmassend gegenüber der einheimischen Kultur.

Will Sharpe und Jesse Eisenberg in «A Real Pain» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Zugleich ist es aber auch er, der die Gruppe für einen humoristischen Schnappschuss vor einem Kriegsdenkmal zusammentrommelt oder sich kein Ticket für die Zugfahrt kauft. Diese allgegenwärtigen, scheinbar unlösbaren Dilemmata bilden ein zentrales Element des Films. Sie verdeutlichen, was wir im Grunde schon längst wissen: Niemand ist perfekt – und das Leben voller Widersprüche.
Neben dieser Erkenntnis und dem Tod seiner Grossmutter hat Benji aber auch noch mit anderen Dämonen zu kämpfen. Wo gehöre ich hin? Was will ich im Leben? Wie bin ich hier gelandet? Kieran Culkin («Scott Pilgrim vs. the World», «Succession») verkörpert diese Gratwanderung zwischen charmantem Entertainer und labilem Sinnessuchenden ungemein überzeugend. Kein Wunder, dass er für diese Leistung mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde.
«Kieran Culkin verkörpert diese Gratwanderung zwischen charmantem Entertainer und labilem Sinnessuchenden ungemein überzeugend.»
Doch auch Jesse Eisenberg steht seinem Kollegen in nichts nach – ob als talentierter Filmemacher oder perfektes Gegenstück in dieser Geschichte. Herrlich anzuschauen ist die Hassliebe zwischen den beiden Protagonisten; wunderbar dargestellt, wie sie sich gegenseitig aufziehen und trotzdem irgendwie bewundern. Genau diese Schlagabtausche und immer wieder urkomischen Situationen geben dem Film die nötige Leichtigkeit und sorgen als Abwechslung zum ernsten Kern für einige Schmunzler.

Kieran Culkin, Jennifer Grey, Jesse Eiseberg, Kurt Egyiawan und Daniel Oreskes in «A Real Pain» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
«A Real Pain» ist ein wichtiger Film, der mit dem Finger gezielt dorthin zeigt, wo es wehtut – wobei es vielleicht ein bisschen zu viele Finger sind. Die kurze Dauer von 90 Minuten wird der Tiefe und dem Gehalt der angesprochenen Themen überhaupt nicht gerecht. Die Bandbreite reicht von Antisemitismus und der Vermittlung historischer Inhalte über antikapitalistische Ansätze bis hin zu suizidalen Tendenzen, was den Bogen eindeutig überspannt. Gerade wenn sich eine Szene aufbaut und tiefgründig wird, bricht sie oft unerwartet ab und springt an einen völlig anderen Ort. Das hinterlässt beim Abspann den seltenen Wunsch nach Extraminuten.
«‹A Real Pain› ist ein wichtiger Film, der mit dem Finger gezielt dorthin zeigt, wo es wehtut – wobei es vielleicht ein bisschen zu viele Finger sind.»
Gleichzeitig ist genau das aber auch ein cleveres Stilmittel und eine treffende Metapher für das Leben: Es passiert so vieles parallel, dass man oft nicht weiss, wo man anfangen oder aufhören soll. Und wenn es erst richtig schwierig wird, schaut man lieber weg und hofft auf bessere Zeiten.
Mehr zum Zurich Film Festival 2024
–––
Kinostart Deutschschweiz: 16.1.2025
Filmfakten: «A Real Pain» / Regie: Jesse Eisenberg / Mit: Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan / Polen, USA / 90 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
«A Real Pain» ist eine wunderbar menschliche Studie über die Komplexität und Absurdität des Lebens – perfekt gespielt und mit überraschend viel Tiefgang und Charakter.
No Comments