Best of #ZFF2019: Das waren unsere 15 Highlights des 15. Zurich Film Festivals
Das 15. Zurich Filmfestival ist zu Ende, 171 Filme flimmerten in der Limmatstadt über die Leinwand und Stars wie Javier Bardem, Cate Blanchett, Oliver Stone, Roland Emmerich, July Delpy, Kristen Stewart oder Daniel Brühl flanierten über den grünen Teppich. Hier zeigen unsere Maximum Cinema Redakteurinnen und Redakteure ihre persönlichen 15 Film-Highlights des #ZFF2019.
«Systemsprenger» von Nora Fingscheidt
«Systemsprenger» werden verhaltensauffällige Kinder genannt, die das Erziehungssystem überfordern – oder eben «sprengen». Dieser problematische Begriff, der die Kinder zu Tätern macht, wird im gleichnamigen Langfilm von Nora Fingscheidt gekonnt hinterfragt. Die neunjährige Benni bringt mit ihren Wutanfällen ihr Umfeld an dessen Grenzen – das junge Mädchen wird von einer Wohngruppe zur Nächsten geschickt, wehrt sich gegen jede Form von Autorität und will eigentlich nur eines: nach Hause, zu ihrer Mama, die von ihrer Tochter jedoch masslos überfordert ist: «Wenn die Profis noch nicht mit ihr klarkommen, wie soll ich das schaffen?» Nora Fingscheidt ist mit «Systemsprenger» ein eindrücklicher Film gelungen, der nicht nur vom Spiel seiner jungen Hauptdarstellerin Helena Zengel lebt, sondern auch mit solch einer unbändigen Energie inszeniert ist, dass man die innere Zerrissenheit seiner Hauptdarstellerin förmlich zu spüren scheint. Völlig zurecht wurde der Film am Festival mit dem Goldenen Auge ausgezeichnet. / Olivier Samter
«Babyteeth» von Shannon Murphy
Teenager Milla (Eliza Scanlen) wohnt bei ihren ungewöhnlichen Eltern (Essie Davis und Ben Mendelsohn), welche die meiste Zeit fröhlich auf selbstverschriebenen Psychopharmaka leben und lieben. (Der Vater ist Psychiater.) Am idyllische Familienleben rüttelt aber nicht nur Millas Krebserkrankung, sondern auch der rebellische Bad Boy Moses (Toby Wallace), in den sich das lebhafte Mädchen gegen den Willen ihrer Eltern verguckt. «Babyteeth», das Erstlingswerk der Australierin Shannon Murphy, ist eine spritzige Coming-of-Age-Achterbahnfahrt der Emotionen, die uns durch die intensiven Charaktere, knalligen Farben und den frischen Indie-Pop-Soundtrack so sehr ans Herz wächst, dass am Ende kein Auge trocken bleibt. Und Toby Wallace, der in Venedig als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet worden ist, ist schlichtweg hot. / Lola Funk
«Marriage Story» von Noah Baumbach
Scheidungen sind nichts Neues im Werk von Noah Baumbach («Frances Ha»). In «The Squid and the Whale» (2005) verarbeitete auf tragikomische Weise die Trennung seiner Eltern. In «Marriage Story» ist nun sein eigenes Leben an der Reihe: Inspiriert von der Auflösung seiner Ehe mit Jennifer Jason Leigh, erzählt er vom Theaterregisseur Charlie (Adam Driver) und der Schauspielerin Nicole (Scarlett Johansson), die sich durch die emotionalen Untiefen einer Scheidung kämpfen müssen. Baumbach gelingt es hier hervorragend, herzerreissend traurige Szenen mit Momenten zu kombinieren, in denen es schwer ist, nicht Tränen zu lachen – auch dank wunderbarer Nebendarbietungen von Alan Alda, Merritt Wever und Wallace Shawn. Doch in Erinnerung bleiben hier vor allem die grandiosen Darbietungen von Adam Driver und Scarlett Johansson, die den Schmerz einer Scheidung in erschütternder Intensität auf die Leinwand bringen. / Alan Mattli
«J’ai perdu mon corps» von Jérémy Clapin
Nachdem man sich beim Zurich Film Festival im vergangenen Jahr noch eher zögerlich auf das Abenteuer Netflix einliess, gab es im diesjährigen Programm gleich zahlreiche Beiträge des amerikanischen Streaming-Giganten. Eine davon ist der poetische Animationslangfilm «J’ai perdu mon corps» von Jérémy Clapin über eine abgetrennte Hand, die ihren Besitzer finden möchte, den Netflix kurz nach dessen gefeierten Weltpremiere in Cannes einkaufte. Der Film wurde nicht nur an der Croisette, sondern auch am grossen Animationsfilmfestival von Annecy mit Preisen überhäuft und gilt bereits jetzt als heisser Oscar-Kandidat. Ernsthafte Hoffnungen auf eine Auszeichnung braucht sich der Film zwar nicht zu machen – dafür ist Clapins beeindruckendes Langfilmdebüt zu mutig und zu kontrovers. Und das wäre dann ja eigentlich das grösstmögliche Lob für diese unglaublich berührende und verspielte Fabel. / Olivier Samter
«The Laundromat» von Steven Soderbergh
Steven Soderbergh («Logan Lucky», «High Flying Bird») schafft mit «The Laundromat» das Kunststück, die wahre Geschichte um die Panama Papers einfach zu vermitteln und uns nebenbei noch köstlich zu unterhalten. Im Zentrum steht die panamaische Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die im grossen Stil half, Steuern zu hinterziehen und Geld zu waschen. Gary Oldman und Antonio Banderas mimen die Winkeladvokaten und führen die Zuschauer mit Gusto durch den Sumpf ihrer illegalen Finanzgeschäfte. An ihre Fersen heftet sich die Rentnerin Ellen (herrlich: Meryl Streep), die wie viele andere von Mossack Fonseca geprellt wurde. Dass Soderbergh mit diesem Werk aber mehr als nur unterhalten will, zeigt er in der grossartigen letzten Szene des Filmes. / Dario Pollice
«Portrait de la jeune fille en feu» von Céline Sciamma
Seit es in Cannes von begeisterten Kritiken empfangen wurde und in der Folge zwei Auszeichnungen einheimsen konnte, wird das romantische Kostümdrama «Portrait de la jeune fille en feu» gerne als französische Antwort auf «Call Me by Your Name» (2017) bezeichnet. Dieser Vergleich wird dem neuen Film von Céline Sciamma («Tomboy», «Bande des filles») aber kaum gerecht, ignoriert er doch seine schiere, trügerisch simple Originalität. «Portrait» spielt im 18. Jahrhundert auf einer bretonischen Insel, wo eine Malerin (Noémie Merlant) ein Porträt einer reservierten jungen Adligen (Adèle Haenel) anfertigen soll, um sie europaweit auf dem Heiratsmarkt anpreisen zu können. Im Laufe weniger Wochen kommen sich die beiden prompt immer näher. In diesem Rahmen webt Sciamma eine subtile, emotional intensive und im Grossen und Ganzen männerlose Frauengeschichte voller vielsagender Blicke, bedeutungsvoller Gesten und knisternder Romantik abseits des «Male Gaze». Das Deutschschweizer Publikum wird diesen atemberaubenden Film bereits am 24. Oktober in den Kinos begrüssen dürfen. / Alan Mattli
«Pelikanblut» von Katrin Gebbe
Nach «Tore tanzt» zeigt die deutsche Regisseurin Katrin Gebbe mit «Pelikanblut» ihren zweiten Langspielfilm am ZFF. Darin kämpft die Pferdetrainerin Wiebke (Nina Hoss) mit der Erziehung ihres zweiten Adoptivkindes aus Bulgarien. Denn Raya (stark: die erst sechsjährige Katerina Lipovska) entpuppt sich als wahrer Teufelsbraten, der den Kindergarten terrorisiert, der Adoptivschwester (Adelia Ocleppo) Morddrohungen ausspricht und sich so immer mehr zu einer tickenden Zeitbombe entwickelt, welche die Sicherheit der ganzen Patchwork-Familie gefährdet. Doch anstatt das Problemkind wieder wegzugeben, greift Wiebke zu drastischen Mitteln, um den von Traumata verschütteten Weg zu einer emotionalen Bindung mit dem Kind freizuschaufeln. «Pelikanblut» ist eine irrsinnig gut inszenierte, radikale und beklemmende Charakterstudie, die tief in die ambivalente Psyche einer alles aufopfernden Mutter blickt und mit einem polarisierenden Ende noch lange nach dem Abspann für hitzige Diskussionen sorgen dürfte./ Lola Funk
«Talking About Trees» von Suhaib Gasmelbari
In den Siebziger- und Achtzigerjahren herrschte im Sudan kulturelle Aufbruchstimmung: Wie in vielen anderen nordafrikanischen Ländern etablierte sich im Zuge der Dekolonisierung auch hier eine dynamische Filmindustrie und -kultur. Einheimische Werke sorgten an internationalen Festivals für Furore; der abendliche Gang ins Kino war fester Bestandteil des sudanesischen Alltags. Doch als sich 1989 Omar al-Bashir zum Diktator aufschwang und dem Land seine fundamental-islamistische Ideologie auferlegte, war es damit vorbei: Die Lichtspielhäuser wurden geschlossen, die Kameras standen still. In «Talking About Trees» porträtiert Suhaib Gasmelbari vier Männer, die diesen Schicksalsschlag nicht auf sich sitzen lassen wollen: Ibrahim Shaddad, Suliman Ibrahim, Manar Al-Hilo und Eltayeb Mahdi – einst erfolgreiche Pioniere des sudanesischen Kinos – haben es sich im Rentenalter zur Aufgabe gemacht, unter ihren Landsleuten die Leidenschaft für den Film neu zu entfachen. Mit seinen stets zu Scherzen aufgelegten Protagonisten und seiner Begeisterung für lokale Kultur mit globaler Relevanz erinnert Gasmelbaris herzerwärmender Dokumentarfilm aber nicht nur an Wim Wenders‘ Kuba-Kultdoku «Buena Vista Social Club» (1999): Die Versuche der vier Freunde, die al-Bashir-Bürokratie zu unterlaufen und eine öffentliche Vorführung von «Django Unchained» (2012) auf die Beine zu stellen, illustrieren auch, welch ein Privileg es ist, im Rahmen eines Filmfestivals Zugang zu Hunderten von Titeln zu haben. / Alan Mattli
«La Llorona» von Jayro Bustamante
Seit jeher entspringt das stärkste Horrorkino dem Verständnis, dass die beängstigendsten Schrecken nicht auf übernatürlichen Monstern gründen, sondern tief in den Abgründen der menschlichen Psyche und Geschichte wurzeln. «La Llorona» von Jayro Bustamante («Ixcanul») ist ein solches Werk, das mit subtilen Mitteln und düster-atmosphärischer Bildsprache die lateinamerikanische Legende der Llorona – der weinenden Geisterfrau – mit den Nachbeben des guatemaltekischen Bürgerkriegs und des Genozids an der indigenen Bevölkerung verwebt. Der verzweifelte Ausruf einer Filmfigur, die sich mit der lauten Demonstration gegen die Kriegsverbrechen ihrer Familie konfrontiert sieht, wird zu einem Leitmotiv: Damit sich ein Land in die Zukunft entwickeln könne, klagt sie, müsse die Vergangenheit vergessen werden. Die Antwort des Filmes darauf ist kompromisslos und voller überwältigender Wucht: Die Geister der Vergangenheit, des gewaltsamen Kolonialismus und des bis in die Gegenwart andauernden Rassismus, können unmöglich einfach unterdrückt werden – sie bilden den vergifteten Kern der heutigen Gesellschaft. / Sara Bucher
«The Farewell» von Lulu Wang
Wäre es nach diversen Hollywoodproduzenten gegangen, wäre Lulu Wangs «The Farewell» nie entstanden: Die chinesisch-amerikanische Hauptfigur sei für ein westliches Publikum keine Identifikationsfigur, ihre Probleme und Kultur seien unverständlich, das untertitelte Mandarin-Chinesisch eine unüberwindbare Sprachbarriere. Auch der chinesische Markt zeigte kein Interesse an Wangs Film: Für China sei das Drehbuch schlicht zu amerikanisch. Dass Wang den Widersprüchen trotzte und ihr autobiographisch geprägtes Projekt zur Vollendung brachte, ist ein grosses Glück. Denn selten passiert es, dass man im Kino eine Geschichte zu sehen bekommt, die man in dieser Form noch nie miterleben durfte: Die Geschichte von Billi (Awkwafina), die von New York nach Changchun reist, um sich von ihrer sterbenden Grossmutter (Zhao Shuzhen) zu verabschieden, erzählt tief traurig und unglaublich komisch vom Suchen und Finden der eigenen Identität, vom Aufwachsen und vom Abschiednehmen. Das berührende Resultat ist – zum Glück – weder chinesisch noch amerikanisch: Es ist das Porträt einer jungen Frau, die tief in beiden Kulturen verwurzelt ist. / Sara Bucher
«Volunteer» von Anna Thommen und Lorenz Nufer
Wir kennen sie alle: die Bilder von Flüchtlinge – auf Booten, an Grenzen, Elend und Leid. Der Schweizer Dokumentarfilm «Volunteer» verweigert sich zwar nicht diesen Bildern, doch er versucht, den Spiess umzudrehen, indem er die Reaktionen von vier Schweizern zeigt, die ausgezogen sind, um diesen Menschen zu helfen. Vier Freiwillige, die Verantwortung übernommen haben an den Grenzen Europas – gegenüber tausenden in Booten ankommenden Menschen. Dem Film von Anna Thommen und Lorenz Nufer gelingt es dabei auf unprätentiöse, ruhige Art, die Innenwelt dieser vier Freiwilligen zu veräusserlichen und lässt diese ohne Zeigefinger und mit viel Taktgefühl davon erzählen, wie es ist, diese Verantwortung wahrzunehmen, die eigentlich niemand will. «Volunteer» ist ein wichtiger Film, der emotional berührt, nichts beschönigt und nachdenken lässt – nicht nur über die Flüchtlingsproblematik, sondern auch übers Helfen, über Helden unter uns und deren Gründe, auszuziehen und ihre Bedürfnisse hinter diejenigen Anderer zu stellen. Und nicht zuletzt ist der Gewinner des Zurich-Film-Festival-Publikumspreises 2019 auch ein Film über die Schweiz, das Schweizerische in uns allen und was es heisst, diese «Käse-Komfortzone» zu verlassen. Bravo! / Dafina Abazi
«Collective» von Alexander Nanau
30. Oktober 2015: Bei einer Brandkatastrophe im Nachtclub Colectiv in der rumänischen Hauptstadt Bukarest sterben 26 Menschen, 180 weitere werden verletzt ins Spital eingeliefert. Doch damit fängt die Tragödie erst richtig an: Der Dokumentarfilmer Alexander Nanau beschreibt die endlose Kette von korrupten Machenschaften, Vertuschungen und gestreckten Desinfektionsmitteln, die im Anschluss an die Katastrophe aufgedeckt wurden und die zusätzlich nochmals 38 Todesopfer gefordert hat. Nanau, der die Aufklärung aus nächster Nähe begleitet hat, gewann damit bereits das zweite Mal nach «Toto and His Sisters» (2016) das Goldene Auge für den Besten Internationalen Dokumentarfilm am Zurich Film Festival – und dies völlig zurecht. / Aurel Graf
«Midnight Family» von Luke Lorentzen
Ohne private Ambulanz-Betreiber wie die Familie Ochoa würden viele der neun Millionen Bewohner*innen von Mexiko-Stadt in Notfällen keine Hilfe erhalten. Die Ochoas machen diese Arbeit nicht aus Barmherzigkeit, sondern um selber zu überleben. Es kommt vor, dass ihr Ambulanzwagen tagelang stillsteht. Dann kommt plötzlich ein Notruf. Nun muss es schnell gehen, denn die Konkurrenz ist ebenfalls unterwegs. Oft erhalten die Ochoas von den bedürftigen Patienten kein Geld – oder ein Teil davon fliesst in die Bestechung von Polizisten. Der junge US-Regisseur Luke Lorentzen zeigt in seinem packenden Dokumentarfilm «Midnight Family» die Auswüchse eines kaputten Gesundheitssystems, in dem die kapitalistische Maxime «Jeder gegen jeden» herrscht. / Dario Pollice
«Ema» von Pablo Larraín
Selten hat ein Film so viel Spass gemacht wie «Ema» von Pablo Larrain («No», «Jackie»), der am Filmfestival von Venedig Weltpremiere feierte. Das vibrierende Drama hat den Rhythmus im Blut, die Reggaeton-Beats sitzen und die Farben könnten prächtiger nicht sein. Angereichert mit spektakulären Tanz-Performances und einer amüsanten, teils sehr emotionalen Geschichte von Leidenschaft, Schuld und Muttersein entwickelt sich eine Odyssee durch die Strassen Valparaísos. Larrain beweist einmal mehr, dass er ein Händchen für mitreissende Inszenierungen hat. «Ema», der in der Reihe «Special Screenings» gezeigt wurde und mit Mariana Di Girolamo und Gael García Bernal in den Hauptrollen grossartig besetzt ist, sollte man sich nicht entgehen lassen – wenn er es denn in die Schweizer Kinos schafft. / Aurel Graf
«Queen of Hearts» von May el-Toukhy
Anne (am ZFF als Beste Schauspielerin gekürt: Trine Dyrholm), glücklich verheiratet und Mutter von herzigen Zwillingsmädchen (Liv und Silja Esmår Dannemann), lebt in einem modernen Haus, das den gehobenen Mittelstand ihrer Familie zur Schau stellt und zum Schauplatz einer beklemmenden Familien- und Gesellschaftstragödie wird. Denn als der verhaltensauffällige Gustav (Gustav Lindh), der Sohn ihres Mannes (Magnus Krepper) aus erster Ehe, einzieht, erwachen in der angesehenen Anwältin sexuelle Begierden, die ihre Beziehung zum jugendlichen Stiefsohn in die heikle Grauzone zwischen Moral und Verlangen abrutschen lässt. «Queen of Hearts» beleuchtet in kühler nordeuropäischer Manier das im Medium Film immer wieder aufgegriffene Thema des sexuellen Missbrauchs von einer neuen Seite. Denn hier ist nicht wie so oft ein Mann der Übeltäter, sondern die Frau, die sich von der liebevollen Mutter in eine unerbittliche und perfid-manipulative Antagonistin verwandelt. Ein sauber ausgeführtes, schockierendes Beziehungsdrama – mit drastischem Ende. / Lola Funk
No Comments