Géza Röhrig ist kein Schauspieler, er will sich auch nicht als solchen bezeichnet wissen. In seiner Jugend spielte er in einer Band, die dem Regime im kommunistischen Ungarn zu rebellisch war, später schrieb er Gedichte. Die Hauptrolle zu «Son of Saul» wollte er zuerst gar ablehnen, doch beim Lesen des Drehbuchs merkte er rasch, dass dieses ihn faszinierte.
Anlässlich seines Aufenthalts in Zürich im Rahmen des jüdischen Filmfestivals «Yesh!» hatten wir die Gelegenheit, uns mit Géza Röhrig zu unterhalten:
Die Rolle Sauls war sehr schwierig zu spielen. Denken Sie, dass Ihnen Ihre Biographie dabei geholfen hat?
Nein und ja. Ich glaube nicht daran, dass man einen Menschen mit einem linearen Lebenslauf erfassen und erklären kann. Jemand kann furchtbar gelitten haben und dennoch unausstehlich sein. Eine Biografie erklärt gar nichts. Aber ich glaube, dass gewisse Verluste in meinem Leben mir bei dieser Rolle geholfen haben. Meine innere Biografie sozusagen.
Sie sagten in einem früheren Interview, dass Sie prädestiniert gewesen seien für diese Rolle. Erschien Ihnen Sauls Charakter von Anfang an vertraut?
Saul lebte in einer anderen Zeit, in anderen Umständen. Das lässt sich nicht so einfach vergleichen und ich bin auch nicht Saul. Ich musste mich in ihn verwandeln. Aber der Archetyp meiner Seele ist Saul. Wir sind uns in vielem ähnlich. Saul ist ein einsamer Charakter, hartnäckig und äusserst willensstark – und ich glaube, das trifft auch alles auf mich zu.
Stimmt es, dass Sie auf dem Set sehr isoliert lebten?
Ja. Während der 28 Drehtage hatte ich so gut wie kein soziales Leben. Während der Wochenende nahm ich meine Mahlzeiten allein ein. Nachts ging ich joggen. Das hat mir geholfen, mich auf die Rolle zu fokussieren. Ich kenne das vom Bücherschreiben. Wenn man im «Flow» ist, darf man sich nicht ablenken. Egal, ob Sie malen, schreiben, komponieren oder eben eine Rolle spielen. Sich abzuschotten ist sehr wichtig.
Gab es eine besondere Art des Vertrauens zwischen László Nemes und Ihnen?
So kann man das nicht sagen. Die Zusammenarbeit zwischen László und mir funktionierte nicht anders als zwischen dem Kameramann und mir. Ich respektiere László sehr als äusserst talentierten Regisseur und wir teilten dieselben Auffassungen über den Film, aber von Vertrauen würde ich nicht sprechen. Das hört sich so romantisch an. Als Schauspieler muss man auch nicht mit dem Regisseur befreundet sein, damit der Film gut wird. Aber natürlich vertrauten wir alle darauf, dass wir diesen Film so umsetzen konnten, wie wir es wollten.
Ich meinte damit eher, dass Sie uns László dieselbe Vision teilten.
Natürlich taten wir das. Wir unterhielten uns intensiv über den Film.
Ihr Film erscheint über 70 Jahre nach der Katastrophe. Mittlerweile gibt es nur noch sehr wenige Holocaust-Überlebende. Wäre es unvorstellbar gewesen, dass «Son of Saul» früher bereits ein solcher Erfolg geworden wäre?
Es geht gar nicht um den Erfolg, sondern nur schon darum, einen solchen Film überhaupt zu drehen. Das wäre vor der dritten Generation gar nicht möglich gewesen. Hätten wir dies in den 1960ern getan, wären wir sofort gelyncht worden. Bisher wurde immer mit einer Betroffenheit auf den Holocaust reagiert. Das wollten wir anders angehen. «Son of Saul» spricht direkt aus dem Bauch heraus, es ist ein roher, direkter Film, der tief unter die Haut geht. Und das wäre früher zu direkt gewesen. Es brauchte 70 Jahre, bis ein solcher Film vom Publikum angenommen werden konnte.
War es das moralische Dilemma des Sonderkommando-Mitglieds Saul, welches Sie am Drehbuch stark interessierte?
Da gab es kein moralisches Dilemma. Was meinen Sie damit?
Das Sonderkommando wurde gezwungen, am Massenmord mitzuarbeiten.
Hat das Sonderkommando jemanden umgebracht? Nein, hat es nicht. Kein einziger Jude hatte Zugang zu Zyklon B. Kein einziges Sonderkommando-Mitglied durfte in den Stock über den Gaskammern gehen, wo das Gift eingeworfen wurde. Das Sonderkommando traf absolut keine Schuld. Es gibt keinen Zeitzeugenbericht, der ein einziges Sonderkommandomitglied belastet.
Vielleicht kann man ein moralisches Dilemma darin sehen, dass das Sonderkommando keinem neu ankommenden Juden verriet, dass er bald vergast werden würde. Aber das ist nicht einmal eine Lüge. Das Sonderkommando durfte ja mit niemandem sprechen. Wer sich nicht daran gehalten hat, wäre sofort umgebracht worden. Und das kann man schwerlich zum Vorwurf erheben. Die gesamte Verantwortung liegt einzig und allein bei den Tätern.
War das Los des Sonderkommandos also noch schwieriger als das der Deportierten – falls man diesen Vergleich überhaupt machen darf?
Ja, das war es. Ein Sonderkommando-Mitglied erwartete ja genau dasselbe Schicksal, er musste aber vorher noch diese extrem erniedrigende Arbeit verrichten. Es gab auch Sonderkommando-Mitglieder, die Suizid begingen, um dieser ausweglosen Lage zu entkommen.
«Son of Saul» verschafft uns eine neue Perspektive über den Holocaust – nachdem es bereits unzählige Filme über das Thema gegeben hat. Was hat Sie bei Ihrer Arbeit besonders herausgefordert?
Zuallererst muss ich vielleicht sagen, dass niemand von uns damit gerechnet hat, dass der Film so erfolgreich sein würde. Nicht einmal in unseren kühnsten Träumen. Wir drehten mit wenig Geld einen Film in einem kleinen Land und bewegen uns weitab des Mainstreams, gerade auch innerhalb der Holocaust-Filme. Das wollten wir so, «Son of Saul» sollte bewusst ein Anti-Film zu den bestehenden Werken über die Shoah werden. Wir waren frustriert darüber, dass viele Regisseure bei einem solch ernsten Thema zu viele Kompromisse eingehen und ihren Film auf dem Altar der Unterhaltungsindustrie opfern.
Was stört Sie daran genau?
Der typische Holocaust-Film enthält eine Bestätigung, dass am Ende das Gute im Menschen obsiegt. Es ist eine Geschichte des Überlebens und der Überlebenden. Diese positive Botschaft und falsch und heuchlerisch. Denn die allermeisten Juden überlebten die Verfolgung nicht. Sie konnten ihre Geschichte nie erzählen, keine Interviews geben. Und genau diese Geschichte all jener, die umgebracht wurden, wollten wir erzählen.
Sie haben keine typische Schauspielerkarriere. Planen Sie, in Zukunft wieder in einem Film mitzuspielen?
Das wird sich zeigen. Ich plane mein Leben nicht im Voraus. Wenn sich eine Gelegenheit ergibt und ich mich mit einer Rolle und dem Film identifizieren kann, warum nicht? Aber falls dies mein erster und letzter Film ist, dann hätte ich keine Probleme damit.
Unsere Rezension zum Film «Son of Saul» gibt es hier: https://www.maximumcinema.ch/son-of-saul/
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