Zeus im Gucci-Trainingsanzug und Opfergaben per Livestream: Charlie Covell katapultiert die griechische Mythologie mit dem Netflix-Kracher «Kaos» ins moderne Zeitalter und verpasst ihr einen erfrischenden Neuanstrich. Neben der göttlichen Uminterpretation punktet die Serie mit schwarzem Humor, karikierten Figuren und einem grandiosen Jeff Goldblum in der Hauptrolle. Platz für gesellschaftliche Debatten bleibt trotzdem – und auch der restliche Cast glänzt in Sachen Diversität und Schauspiel.
Eine Linie erscheint, die Ordnung ruiniert; die Familie fällt und Chaos regiert. Es ist diese Prophezeiung, die dem allmächtigen Göttervater Zeus (Jeff Goldblum) Falten auf die Stirn treibt. Dabei hat er sich das Leben in seinem Kitschtempel auf dem Olymp eindeutig anders vorgestellt: tiefenentspannt mit Göttergattin Hera (Janet McTeer) an der Seite, seinen bediensteten Poolboys im Schlepptau und einem kühlen Getränk in Griffnähe. Doch es braut sich tatsächlich etwas zusammen – und als das Volk ungehorsam wird und es sogar in der eigenen Familie zu knallen beginnt, ist der Spass endgültig vorbei.
Wie sähe die Götterwelt heutzutage aus? Wenn es nach der drehbuchschreibenden Showrunner-Person Charlie Covell («The End of the F***ing World», «Truelove») geht, wäre sie vor allem etwas: over the top. Auf knallbunte und extravagante Weise bedient sich «Kaos» der grössten Mythen des antiken Griechenlands und beweist dabei kreatives Fingerspitzengefühl. Ohne die Essenz der Vorlagen zu verlieren, spinnt Covell die Figuren und Handlungen weiter und steckt sie in ein zeitgemässes Gewand. Der junge Orpheus (Killian Scott) bleibt seiner musischen Ader treu, ist hier jedoch einer der grössten Popstars von Kreta. Als Gott der Ekstase vögelt und feiert sich Dionysos (Nabhaan Rizwan) immer noch durch die Gegend, jetzt aber in Gestalt eines sinnsuchenden Neuzeit-Hipsters mit Hang zu Versace-Overload.
Genau darin liegt die Genialität dieses Projekts: Die altbekannten (und teilweise auserzählten) Sagen gewinnen durch die aktuelle Aufbereitung an Relevanz, Innovation und Unterhaltungswert. Zusätzlich besteht das Potenzial, die Anzahl der Figuren in künftigen Staffeln – falls es dazu kommt – endlos auszubauen. Denn wer würde nicht gerne sehen, wie sich Hermes, Aphrodite und Co. in dieser Welt schlagen?
«Absolutes Highlight ist die Darbietung von Jeff Goldblum als Zeus. In gleichermassen ultralässiger und machomässig abstossender Manier verkörpert er den patriarchischen Göttervater perfekt.»
Absolutes Highlight ist dabei die Darbietung von Jeff Goldblum («Jurassic Park», «The Grand Budapest Hotel») als Zeus. In gleichermassen ultralässiger und machomässig abstossender Manier verkörpert er den patriarchischen Göttervater perfekt. Stets mit goldener Pimp-Sonnenbrille im Gesicht und einem bitterbösen Spruch auf den Lippen verteidigt er seine Machtposition ohne jegliche Skrupel und Gnade. Besonders deutlich äussert sich das im Umgang mit seinem «besten Freund» Prometheus (Stephen Dillane), der zwar ständig um Rat gebeten, aber immer wieder zurück an den Felsen verbannt wird, wo ihm ein Adler als Strafe die Leber rauspickt. Einzig und allein Hera, die Göttin der Ehe und Familie, hat ihren Mann (und gleichzeitig Bruder) fest im Griff. Doch auch das ändert sich, als Zeus‘ Paranoia und Wut vollends ausser Kontrolle geraten.
Die Magie von «Kaos» auf eine einzige Darbietung zu beschränken, ist allerdings wenig sinnvoll, denn es ist die Fülle an Gestalten und Handlungssträngen, die ein griechisches Epos ausmachen. Trotzdem verliert sich die Serie an gewissen Stellen etwas zu sehr in den vielen parallelen Geschichten und könnte etwas mehr Fokus vertragen. Ausserdem ist es herausfordernd, dem Geschehen ohne jegliche Vorkenntnisse zu folgen und auf Anhieb zu erkennen, wer überhaupt welche Figur darstellt.
«Gerade diese Vielfalt gehört zu den grössten Stärken der Serie und erweckt den kuriosen Kosmos so richtig zum Leben. Das geschickte Casting demonstriert zudem brillant, wie Diversität bei der Besetzung berücksichtigt werden kann.»
Das heisst aber nicht, dass weniger Akteure wünschenswert wären. Im Gegenteil: Gerade diese Vielfalt gehört zu den grössten Stärken der Serie und erweckt den kuriosen Kosmos so richtig zum Leben. Das geschickte Casting demonstriert zudem brillant, wie Diversität bei der Besetzung berücksichtigt werden kann, ohne erzwungen zu wirken – sei es in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, sexuelle Identität oder körperliche Beeinträchtigung. Da darf sich der Rest von Hollywood gerne eine Scheibe abschneiden.
Ähnliches gilt für gesellschaftliche Debatten wie der Frage nach Männlichkeit oder klassischen Geschlechterrollen, die subtil in die acht Episoden eingeflochten werden. Dies ist möglich, weil sich die griechischen Vorlagen thematisch gar nicht so sehr von dem unterscheiden, was die Allgemeinheit heute beschäftigt. Bestes Beispiel ist die Geschichte von Caeneus: Im weiblichen Körper geboren, zum Mann verwandelt, als logische Schlussfolgerung vom Transmann Misia Butler («The Bastard Son & The Devil Himself») gespielt. Diese Repräsentation berührte Butler so sehr, dass es am Set sogar zu Tränen kam, wie er gegenüber der Zeitung «The Mirror» erzählte.
«Es wirkt also fast, als hätten die Gottheiten persönlich bei dieser Produktion mitgemischt. Denn diese stehen ohnehin seit eh und je über jeglicher menschlicher Heteronormativität und binären Geschlechtervorstellungen.»
Es wirkt also fast, als hätten die Gottheiten persönlich bei dieser Produktion mitgemischt. Denn diese stehen ohnehin seit eh und je über jeglicher menschlicher Heteronormativität und binären Geschlechtervorstellungen. Und sie beweisen, dass die Geschichten von damals auch 3000 Jahre später noch eine Daseinsberechtigung haben und bestens funktionieren.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Kaos» / Creator: Charlie Covell / Mit: Jeff Goldblum, Janet McTeer, Aurora Perrineau, Cliff Curtis, David Thewlis, Rakie Ayola, Killian Scott, Nabhaan Rizwan, Leila Farzad, Debi Mazar, Stephen Dillane, Misia Butler / Grossbritannien / 8 Episoden à 46–56 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix © 2024
Mythologie trifft auf Moderne: Mit einem grandiosen Jeff Goldblum in der Hauptrolle, schrägem Humor und origineller Inszenierung katapultiert «Kaos» die griechische Götterwelt in die Gegenwart.
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