«Petite Nature» stellt die Grauzonen von zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt und spielt mit Ambivalenzen auf eine Art und Weise, die schon fast unangenehm und dennoch fesselnd sind. Der zweite Langspielfilm von Samuel Theis spielt einmal mehr an der deutsch-französischen Grenze und fährt nicht zuletzt dank der schauspielerischen Leistung des 14-jährigen Aliocha Reinert richtig ein.
In einer Sozialbausiedlung im Nordosten Frankreichs versucht der zehnjährige Johnny (Aliocha Reinert), seinen Platz im Leben zu finden. Doch das ist leider nicht so einfach: Ständig sieht sich die kleine Familie gezwungen, aufgrund der wechselnden Liebhaber von Johnnys Mutter Sonia (Mélissa Olexa) umzuziehen. Ohnehin scheint Sonia nicht gewillt zu sein, sich ernsthaft um ihre Kinder zu kümmern. Der sensible Junge übernimmt also die volle Verantwortung für sich und seine kleine Schwester (Jade Schwartz), geht einkaufen und sorgt dafür, dass beide rechtzeitig in der Schule sind.
Erst als sein neuer Lehrer Jean Adamski (Antoine Reinartz) an seine Schule kommt, scheint Johnny sich zum ersten Mal richtig wahrgenommen zu fühlen. Jean erkennt schnell den wachen Geist des Jungen, und auch die Hintergründe, die ihn daran hindern, sein volles Potenzial auszuschöpfen. Zwischen dem Lehrer und dem Jungen entwickelt sich rasch eine enge Beziehung, die – vor allem wegen Johnny – bald droht Grenzen zu überschreiten.
«C’est la tête de la famille, toute ma fierté»
Neben dieser problematischen Nähe zu seinem Lehrer steht auch immer wieder die mindestens so problematische Mutter-Sohn-Beziehung im Fokus von «Petite Nature». Während Sonia nur schon ihr eigenes Leben und ihre Gefühle gerade so knapp im Griff hat, halst sie dem Jungen die Rolle des Familienvaters auf. Das manifestiert sich vor allem dann, wenn Johnny versucht, sich von dem ihm aufgedrückten Part zu entfernen und folglich mit der defensiven – wenn nicht schon aggressiven – Reaktion der Mutter konfrontiert wird. Gleichzeitig wird öfters verbildlicht, dass die beiden auch auf einer körperlichen Ebene eine eher fragwürdige Beziehung führen, was Johnnys Vaterrolle umso mehr unterstreicht und umso mehr Unmut bei den Zuschauer*innen stiftet.
Insofern lässt sich Johnnys Zuneigung für seinen neuen Lehrer dann auch irgendwie nachvollziehen – wobei «irgendwie» hier wohl die Essenz ist. Es sind nicht explizite Dialoge oder Bilder, die erklären, wer was fühlt und was falsch und richtig ist. Das kristallisiert sich als grosse Stärke des Films heraus. Regisseur und Autor Samuel Theis («Party Girl») versteht es, nicht mit dem Finger auf die komplexen Wechselwirkungen der unterschiedlichen Beziehungen zu zeigen. Vielmehr ist es die Kameraarbeit in den intimen Szenen rund um Johnny, die seine Reife, Wut, Hoffnung und seinen Selbstfindungsprozess einfängt und so eindrücklich die Problematik dieser überschrittenen gesellschaftlichen Grenzen und seine eigene Überforderung damit wiedergeben.
«Regisseur und Autor Samuel Theis versteht es, nicht mit dem Finger auf die komplexen Wechselwirkungen der unterschiedlichen Beziehungen zu zeigen.»
Somit bleiben auch der kleine Junge und seine Gefühlswelt alleinige Protagonisten des Films. Die Figuren des Lehrers, der Mutter und der Geschwister bleiben in den meisten Belangen zweitrangig, was dem Film umso mehr Tiefe und Perspektive verleiht. Entsprechend ist «Petite Nature» ein eindrückliches Sozialdrama, das einen mit einzigartiger visueller Kraft mitfühlen lässt.
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Kinostart Deutschschweiz: 7.4.2022
Filmfakten: «Petite Nature» / Regie: Samuel Theis / Mit: Aliocha Reinert, Antoine Reinartz, Mélissa Olexa, Izïa Higelin / Frankreich / 95 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cineworx
«Petite Nature» beleuchtet heikle Themen, spielt mit Ambivalenzen und kombiniert dies mit einem überzeugenden Erzählstil und einem eindrücklichen Cast. Ein fesselndes und aufwühlendes Filmerlebnis.
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