Maren Ade ist mit ihrem dritten Film ein grandioses Werk gelungen. Der Film ist voller magischer Szenen, grausam komisch und ulkig, aber auch herzzerreissend-traurig. Der Film begeisterte in Cannes Kritiker aus der ganzen Welt – nur die Jury leider zu wenig.
Toni Erdmann ist Coach, Consultant und manchmal auch Deutscher Botschafter. Wenn’s dem Auftritt hilft, bedient er sich der Stretchlimo oder eines Furzkissens. Sein Markenzeichen jedoch sind die schreckliche Perücke und die klamaukigen Zähne, die jedes Fasnachtsoutfit perfekt abrunden würden. Obwohl ihn niemand richtig ernst nimmt, verfügt Toni über genügend Charme, um die Leute in seinen Bann zu ziehen.
Dabei gibt es ihn eigentlich gar nicht. Denn Toni Erdmann ist nur eine Erfindung des vereinsamten Musiklehrers Winfried Conradi (Peter Simonischek). Dieser will sich seiner Tochter Ines (Sandra Hüller) annähern, einer geschäftlich erfolgreichen, dauergestressten und unglücklichen Unternehmensberaterin. Sie arbeitet gerade in Bukarest, denkt aber bereits an ihren nächsten Job in Asien und verbringt sowieso die meiste Zeit telefonierend am Handy.
Business-Life und Bullshit-Bingo
Ines, blond natürlich, ist eiskalt berechnend und spielt Leute gegeneinander aus, um ihre Geschäftsinteressen durchzusetzen. Angestellte der Firmen, die sie berät, entlässt, beziehungsweise «outsourct» sie auch mal zu Hunderten. Ihren auf «Performance» abgerichteten Machokollegen steht sie um nichts nach, nicht einmal, wenn’s um sexuelle Phantasien geht.
Gerade in dem Moment, in dem wir die Beziehung und vor allem Ines’ Charakter als klischiert zu hinterfragen beginnen, betritt Toni die Bühne. Und travestiert die Travestie des modernen Geschäftslebens.
Gerade in dem Moment, in dem wir die Beziehung und vor allem Ines’ Charakter als klischiert zu hinterfragen beginnen, betritt Toni die Bühne. Und travestiert die Travestie des modernen Geschäftslebens. Mit seinem Humor, der Leuten gern den Spiegel vorhält und sie bisweilen auch vor den Kopf stösst, persifliert er die absurde Welt der ach-so-dringenden Termine und hohlen Anglizismen, aber auch den dahinterliegenden Leistungsgedanken und das Karrierestreben.
Komödie oder Tragödie?
Und Ines? Nachdem all ihre Abwehrversuche erfolglos bleiben, akzeptiert sie Toni nicht nur, sondern spielt mit. Wobei dann doch eher mit ihr gespielt wird als umgekehrt – ihr schelmischer Vater behält die letzte Pointe stets für sich. Hier zeigt der Film seine wahre Stärke. Nach der Irritation und dem Schenkelklopfen findet eine behutsame Annäherung zwischen Vater und Tochter statt. Diese schenkt uns einige der besten Leinwandszenen, die wir seit langem gesehen haben. So der herzzerreissende Auftritt der beiden, als sie Whitney Houstons «The Greatest Love of All» wiedergeben oder Ines’ Geburtstagsbrunch, der als teambuildende Massnahme geplant war und kurzerhand zu einer Nacktparty wird. Dass der Humor nie kippt und die Geschichte stets trauriger wird, ist der Verdienst eines starken Drehbuchs genau so wie hervorragender Schauspieler.
Befremden bleibt
Der gut zweieinhalbstündige und dennoch äusserst kurzweilige Film hinterlässt aus zwei Gründen einen Kloss im Hals. Erstens, weil sich Tochter und Vater am Ende doch fremd bleiben. Zwar verstehen und mögen sich der Althippie und die Businessfrau viel besser, aber aus ihrer Haut können beide nicht schlüpfen.
Viel schlimmer ist aber, dass der Film in Cannes nicht mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Maren Ades Meisterwerk hätte die Auszeichnung verdient, nicht nur weil die Regisseurin erst die zweite Frau überhaupt gewesen wäre, die den prestigeträchtigen Filmpreis gewonnen hat. Offenbar, so muss man konstatieren, hat nicht nur die Welt der Unternehmensberater Nachholbedarf.
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Kinostart: 21.07.2016 / Regie: Maren Ade / Mit: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Hadewych Minis, Lucy Russell / Trailer- und Bildquelle: www.filmcoopi.ch
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