Wer bestimmt eigentlich die Alterfreigabe im Film für die Schweiz? Ein Interview.
Als Erwachsene einen Film zu schauen, um danach ein Urteil zu fällen und eine fundierte Kritik zu schreiben, erfordert eine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Materie, Vergleiche mit anderen Produkten, ausreichend Vorwissen und Vieles mehr. Als Erwachsenen einen Film zu schauen und danach zu reflektieren, wie er auf ein Kind wirkt, braucht mindestens genauso viel Fingerspitzengefühl. Die Schweizerische Kommission für Jugendschutz im Film macht genau das – über 200 Mal im Jahr.
Ende Januar dieses Jahres, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wurde der mit mehreren Oscars ausgezeichnete Film «Schindlers Liste» zum 25-Jahr-Jubiläum des Erscheinens nochmals in diversen Kinos gezeigt. Der Film erinnert an die grausamen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges. Weniger grausam als die Realität aber dennoch schwer verdaulich sind die Szenen, die abgebildet werden: Massenvernichtung, willkürliche Hinrichtungen, Kinderleichen, die verbrannt werden. Die Altersfreigabe des Films beträgt 12 Jahre. Doch wie kann beurteilt werden, ob ein solcher Film für Zwölfjährige zumutbar ist? Marc Flückiger, Präsident der Kommission für Jugendschutz im Film, erklärt: «Es macht einen Unterschied, ob ein Film Vergasungen als reine Unterhaltung zeigt oder um heutige Generationen über geschichtliche Ereignisse zu informieren.» Da beim Film von Steven Spielberg Zweiteres der Fall ist, liegt die Altersfreigabe tiefer, als man erwarten könnte.
«Es macht einen Unterschied, ob ein Film Vergasungen als reine Unterhaltung zeigt oder um heutige Generationen über geschichtliche Ereignisse zu informieren.»
Dies und viele weitere spannende Infos hat Maximum Cinema bei einem Interview mit Marc Flückiger, erfahren.
Herr Flückiger, wie kommt die Kommission für Jugendschutz im Film zu ihren «Aufträgen»?
Ein Verleiher, der einen Film in die Schweizer Kinos bringen möchte, meldet diesen bei uns auf filmrating.ch an und macht auch gleich einen Vorschlag für die Altersfreigabe. Wir entscheiden dann, ob wir diese Angabe prüfen wollen und je nach dem visionieren wir den Film selbst und ändern die Altersfreigabe.
Wie entscheiden Sie, ob Sie einen Film visionieren?
Wir vergleichen die Altersfreigabe in anderen Ländern und schauen uns den Trailer an. Manchmal wurde der Film schon an Festivals gezeigt und wir konnten so schon Erfahrungen sammeln oder Meinungen einholen. Meistens können wir gut beurteilen, ob wir mit den Vorstellungen des Verleihers einverstanden sind. Wenn wir streng nach dem Kinder- und Jugendgesetz vorgehen würden, müssten wir jeden Film selbst sehen. Aber wenn es sich zum Beispiel um einen Dokumentarfilm handelt, sehen wir keinen Grund, den Film vorab zu sehen und zu beurteilen.
Wenn ihr den Vorschlag des Verleihers anzweifelt, sieht sich also jemand von der Kommission den Film an …
… nein, die Filme werden jeweils von drei Personen angeschaut. Je ein Vertreter der KKJPD (Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren), der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren sowie aus der Branche (SVV und ProCinema). So ist auch die Kommission zusammengesetzt: je 20 Personen aus den genannten drei Bereichen; insgesamt besteht die Kommission aus 60 Personen. Diese drei Personen sehen sich den Film also an – in Lausanne, Basel oder Zürich –, diskutieren im Anschluss und einigen sich auf ein Alter.
«Die Filme werden jeweils von drei Personen angeschaut. Je ein Vertreter der KKJPD (Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren), der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren sowie aus der Branche (SVV und ProCinema).»
Und dieses ist für die Kinos verpflichtend?
Ja, die Kinos müssen das beim Einlass kontrollieren. In Begleitung von Erwachsenen darf die Altersbeschränkung um zwei Jahre unterschritten werden. Manchmal setzen wir in Klammer noch eine zweite Altersangabe, das ist dann unsere Empfehlung, die aber nicht zwingend ist. Die Verleiher dürfen übrigens Rekurs einlegen, wenn sie nicht zufrieden sind. Das geschieht ab und zu. Dann kommt es zu einer Zweitvisionierung mit fünf Personen.
Entwicklung soll nicht beeinträchtigt werden
Nach welchen Kriterien werden die Filme bewertet?
Wir schauen auf viele Dinge. Dazu gehören: Form und Machart, Dauer, Sprache, Suchtverhalten, Sexualität, psychisch belastende Beziehungen, negative Vorbilder, Gewalt, Diskriminierung, Angst, kulturelle Interessen, Humor, didaktische Aspekte, Anregung zum Nachdenken. Zu den didaktischen Aspekten gehört das Beispiel mit «Schindlers Liste». Oder auch: Fliesst einfach aus Spass viel Blut, oder macht es Sinn?
Das heisst, man beurteilt rein objektiv anhand einer Liste?
Nein, wir haben zwar diese Kriterien, aber Altersfreigaben zu setzen ist dennoch keine Wissenschaft. Viele Faktoren sind subjektiv oder kulturbedingt.
Es ist also keine Arbeit, die in Zukunft von Robotern übernommen werden könnte?
Doch, in den Niederlanden gibt es bereits ein System, bei dem die Alterseinstufungen über Algorithmen gemacht werden. Dagegen spricht grundsätzlich nichts, aber man muss die Algorithmen sehr sorgfältig hinterlegen und von der Kultur abhängig machen. Ausserdem ist es wichtig, dass man die Ergebnisse regelmässig kontrolliert und eingreifen kann.
«In den Niederlanden gibt es bereits ein System, bei dem die Alterseinstufungen über Algorithmen gemacht werden.»
Angenommen, ihr visioniert einen gewalttätigen Film. Wie entscheidet ihr nun, ob man ihn Jugendlichen zumuten darf?
Gewalt gehört zu den harten Faktoren, wie auch Tabak oder Alkohol. Da prüfen wir jeweils, ob es im Film schlechte Vorbilder hat. Ausserdem müssen wir beurteilen, ob das Gezeigte entwicklungspsychologische Folgen für das Kind oder die Jugendlichen haben kann. Entweder, weil es zu sehr belastet, oder, fast noch schlimmer: weil es abstumpft. Ob der Film einen Einfluss auf die Entwicklung hat, ist also das grösste Kriterium bei uns. Dazu kommen kulturelle und persönliche Faktoren, da haben alle Experten eigene Ansichten. Wir sind sehr breit gefächert und deshalb ist es auch gut und nötig, dass nicht eine Person alleine entscheidet.
Wie entscheidend ist das Ende eines Films?
Sehr entscheidend. Wir fragen uns stets: Ist für das Kind erkennbar, wer «der Gute» und wer «der Böse» ist? Wer gewinnt? Löst sich die Situation auf? Versteht das Kind zum Beispiel, wieso sich zwei gestritten haben?
Filme ändern sich – Altersangaben auch
Gibt es bei der Setzung der Altersfreigaben Unterschiede je nach Land?
Ich würde eher sagen, je nach Kontinent. In Asien sind die Regeln generell sehr streng. In den USA ist man sehr kritisch gegenüber Sex- oder Nacktszenen, während man in Europa bei Gewalt eher streng ist.
«Wir sind heute viel offener als in den 70er Jahren»
Was war früher anders und was wird sich in Zukunft verändern?
Wir sind heute viel offener als zum Beispiel in den 70er Jahren, vor allem, was Nacktszenen angeht. Die Filme verändern sich und so verändern sich auch die Altersfreigaben. In Zukunft werden sich ausserdem die Strukturen in der Schweiz ändern. Früher war unsere Aufgabe kantonal geregelt, heute eigentlich national, aber es gibt noch kein entsprechendes Gesetz. Dieses wird wohl im Frühling in Vernehmlassung gehen und vielleicht 2022 in Kraft treten. Dann wird wohl Vieles neu, aber mehr kann ich dazu noch nicht sagen.
Ihr macht euch grosse Mühe, um einen Film zu bewerten und die Kinos müssen sich daran halten. Ein paar Monate später kommt der Film auf DVD raus und jeder kann sich den Film anschauen. War dann eure Arbeit nicht umsonst?
Nein, auf keinen Fall. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich viele auch im privaten Rahmen an die Altersbeschränkung halten. Dafür ist es aber wichtig, dass unsere Angaben greifbar und glaubwürdig sind und nicht willkürlich erscheinen. Ausserdem macht es einen Unterschied, ob man einen Film im Kino auf Grossleinwand oder zu Hause am Fernsehen sieht. Die Wirkung ist anders, ein brutaler Film wird meist weniger intensiv als auf der Grossleinwand erlebt.
Hat sich die Art, wie Sie Filme schauen, verändert, seit Sie in der Kommission sind?
Ja, ich schaue mir Filme ganz anders an, seit ich dabei bin. Wir müssen uns laufend in die Welt von Kindern und Jugendlichen eindenken, und das lässt sich kaum mehr abstellen.
«Wir müssen uns laufend in die Welt von Kindern eindenken»
Gibt es manchmal Reklamationen aufgrund eurer Einstufung?
Ja, das kommt schon regelmässig vor. Vor allem wegen zu tiefer Einschränkung, dann melden sich zum Beispiel Eltern bei uns.
Vielen Dank Herr Flückiger für das spannende und aufschlussreiche Interview.
Marc Flückiger (64) ist Abteilungsleiter im Erziehungsdepartement in Basel und seit 2002 in der kantonalen Filmkommission und seit Bestehen der nationalen Kommission für Jugendschutz im Film ist er deren Präsident. 2018 wurden in der Schweiz 527 Filme eingestuft, die Kommission hat dabei knapp die Hälfte selbst visioniert.
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Titelbild: Caleb Woods on Unsplash
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