Man kann sich nicht aussuchen, in welche Familie man hineingeboren wird. Aber was passiert, wenn man mit knapp 17 Jahren in eine Familie hineinkatapultiert wird und man sich das auch nicht aussuchen konnte? Denn irgendetwas stimmt mit dieser neuen Familie in «Wildland» nicht, und manchmal gehen die Sachen schon schief, bevor sie begonnen haben.
Die 17-jährige Ida (Sandra Guldberg Kampp) wird nach dem Unfalltod ihrer Mutter bei ihrer Tante Bodil (Sidse Babett Knudsen) zur weiteren Obsorge untergebracht. Ida wird liebevoll im neuen Zuhause aufgenommen, obwohl sie weder Bodil noch deren drei Söhne Jonas (Joachim Fjelstrup), Mads (Besir Zeciri) und David (Elliott Crosset Hove) wirklich kennt, da der letzte Kontakt Jahre zurückliegt. Wenn sich die Familie am gemütlichen Frühstückstisch trifft, um Ida willkommen zu heissen, scheint das verletzte, introvertierte Mädchen wieder Halt zu finden und Vertrauen zu schöpfen.
Doch die Schonfrist ist bald vorbei und Ida soll ihre Tante und die drei Brüder zu ihren «Terminen» begleiten. Unter Bodils Matriarchat treiben die drei Söhne die Gelder unterschiedlicher Schuldner ein – und dabei gehen sie nicht zimperlich vor. Ida ist verstört darüber, einerseits, wie die Familie ihr Geld verdient, andererseits, weil sie das wilde Leben im Beisein der drei Cousins auch geniesst.
Jonas, der Älteste, rechte Hand der Matriarchin, ist mehr damit beschäftigt, seine Brüder unter Kontrolle zu halten, als sich um die Geschäfte zu kümmern. Denn David (Elliott Crosset Hove) ist mehr zugedröhnt als bei der Sache, und Mads (Besir Zeciri) arbeitet lieber an seinen Muskeln und zockt die Nächte an der PlayStation durch – und darf sich als Nesthäkchen auch die Haare von Mama kraulen lassen.
«Manchmal gehen die Sachen schon schief, bevor sie begonnen haben.»
Trotzdem wird die innerfamiliäre Abhängigkeit zwischen Mutterliebe, Verpflichtung und Kriminalität zur Zerreissprobe. Denn Ida lernt schnell: Wenn es um die drei nichtsnutzigen Söhne geht, versteht Bodil keinen Spass. Ausserdem duldet die Königin keine Prinzessin in ihrem Reich. Jonas’ Freundin darf maximal das gemeinsame Kind grossziehen, derweil Davids Freundin das Haus gar nicht erst betreten darf. Sie wird erst geduldet, als ihre Schwangerschaft offiziell ist.
Und Ida? Ida hat ihre moralischen Zweifel, steht auch nach wie vor unter der Obhut des Jugendamtes und könnte eine Gefahr für den Clan darstellen, auch wenn sie zur Sippe gehören will. Der am Anfang des Filmes per Voiceover gesprochene Satz «Manchmal gehen die Sachen schon schief, bevor sie begonnen haben» kommt im Laufe der Handlung immer mehr zum Tragen.
Bodils Autorität als Familienoberhaupt und eiskalte Clan-Chefin bekommt Ida mit grosser Wucht zu spüren, als David im Handgemenge einen Schuldner erschiesst und die dysfunktionale Familie in einen Strudel von fatalen Folgen gerät, die Ida nun ausbaden soll.
Jeanette Nordahl beweist in ihrem Langspielfilmdebüt viel Gespür, wie eine Mischung aus Liebe, Grausamkeit und Grenzüberschreitung ein Familienleben prägen und zerstören kann. In der Protagonistin Ida veranschaulicht sie, dass man sich diesem kaum entziehen kann, auch wenn man im Gegensatz zur Sippe so etwas wie Moral besitzt. Nordahl weiss diese konfliktgeladene Familienkonstellation in subtilen, immer wieder auf Gewalt hindeutenden Bildern darzustellen.
«Jeanette Nordahl beweist in ihrem Langspielfilmdebüt viel Gespür, wie eine Mischung aus Liebe, Grausamkeit und Grenzüberschreitung ein Familienleben prägen und zerstören kann.»
Gewisse Nebenschauplätze, wie zum Beispiel die Frage, warum das Jugendamt Ida in eine polizeibekannte Familie steckt und ob Idas Mutter das so gewollt hätte, bleiben aber unbeantwortet. Das führt auch zur Frage, warum einige Nebencharaktere eher stören, als dass sie zur Handlung beitragen. So zum Beispiel die beiden Freundinnen der Brüder oder der Betreuer des Jugendamtes: Hier werden Storys angedeutet, die im weiteren Verlauf einfach verblassen und nicht weiterverfolgt werden, so auch die Annäherung Idas an Davids Freundin Anna (Carla Philip Røder). Diese Figuren verblassen ebensoschnell, wie sie in der Handlung aufgetaucht sind. Man hätte dann ebenso gut auf sie verzichten können.
Hervorragend hingegen ist die schauspielerische Leistung von Sandra Guldberg Kampp, die als traumatisierte Ida zum ersten Mal vor der Kamera stand und gemeinsam mit Sidse Babett Knudsen («Borgen», «After the Wedding») die zerstörerische Kraft der Familienliebe verkörpert.
«Wildland» ist wahrlich kein Samstagnachmittagsfilm für die ganze Familie, aber eine gelungene Charakterstudie einer Übermutter, die ihre Söhne nicht erwachsen werden liess.
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Kinostart Deutschschweiz: 5.11.2020
Filmfakten: «Wildland» («Kød & blod») / Regie: Jeanette Nordahl / Mit: Sandra Guldberg Kampp, Sidse Babett Knudsen, Joachim Fjelstrup, Elliott Crosset Hove, Besir Zeciri / Dänemark / 88 Minuten
Bild- und Trailerquelle: First Hand Films
Wie viel Moral verträgt eine kriminelle Familie? Jeanette Nordahls Langspielfilmdebüt «Wildland» versucht sich an einer Antwort, ausgestattet mit hervorragenden Darsteller*innen.
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