In „Russian Ark“ führte Alexander Sokurov in einer einzigen Einstellung durch die Eremitage in St. Petersburg. Nun zog es ihn wieder in ein Museum: „Francofonia“ ist ein faszinierendes Filmessay über Kunst, Kultur und das europäische Ideal am Beispiel des Pariser Louvre.
Lange dauert es nicht, bis Sokurov mehr oder weniger offensichtlich auf die Ideen zurückgreift, die er 2002 in „Russian Ark“ entwickelt hat. Wie schon in seinem Spaziergang durch die Eremitage, wo der russische Regisseur den unsichtbaren Protagonisten sprach, ist er auch in „Francofonia“ präsent. Seine Stimme ist während des Vorspanns, der eigentlich ein Abspann ist, zu hören; später ist er bei der Arbeit in seinem Büro zu sehen. Er scheint mit einem Freund zu telefonieren, der auf einem mit unbezahlbaren Kunstschätzen beladenen Frachtschiff arbeitet – ein Gespräch, das via Napoleon und Tolstoy beim unerbittlichen Meer der Geschichte landet. Man fühlt sich ans Ende von „Russian Ark“ erinnert, als die Hauptfigur einen Blick nach draussen riskiert, nur um festzustellen, dass der Palast eine Arche ist, einsam und verloren in einem nebelverhangenen Eismeer.
Es ist eine passende Metapher für die Institution Museum. Hier überdauern Artefakte die Jahrhunderte und dienen zahllosen Generationen zur Aufklärung und Inspiration – doch wie viele von ihnen sind durch ihren Erwerb aus einem essenziellen Zusammenhang gerissen worden? Wie viele stehen sinnbildlich für das Leid, das einem besiegten und unterjochten Volk angetan wurde? „Natürlich ist all das Kriegsbeute“, gibt Napoleon Bonaparte (Vincent Nemeth) zu bedenken, als er nachts zusammen mit der französischen Marianne (Johanna Korthals Altes) im Louvre umgeht.
Überhaupt mutet „Francofonia“ oft wie ein Gang durchs Museum an. Wie ein Besucher von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück mäandert, ändert Sokurov laufend Modus, Ästhetik und sogar Filmmaterial. Mal verfolgt er Marianne und Napoleon durch die hintersten Winkel des wohl berühmtesten Museums der Welt; mal vertont er Archivaufnahmen Adolf Hitlers neu; mal philosophiert er vor animierten Illustrationen über die architektonische Geschichte des Louvre-Komplexes. Der Hauptfokus jedoch liegt auf der halbdokumentarisch aufgearbeiteten Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs, wo der Beamte Jacques Jaujard (Louis-Do de Lencquesaing) und der „Kunstschutz“-Beauftragte Franz Wolff-Metternich (Benjamin Utzerath) das Fortbestehen der Instution sicherstellten.
Im Stile eines Patricio Guzmán („El botón de nácar“) wandert Sokurov von einem Gedanken zum nächsten, geleitet von Gemälden, Stichworten und historischen Zufällen. Daraus ergibt sich eine assoziative, immer wieder überraschende Collage über die viel diskutierte europäische Kultur und die Frage ihrer Gültigkeit vor dem Hintergrund des turbulenten 20. Jahrhunderts, dessen schlimmste Auswüchse von eben diesem Kontinent ausgegangen sind. „Francofonia“ ist einer jener Filme, die man mit dem Gedanken verlässt, dass man noch stundenlang hätte weiterschauen können.
Seit dem 7. April in den Deutschschweizer Kinos.
Bildquelle: Look Now!
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