Homosexuelle Paare haben in Hongkong keine Möglichkeit, ihre Beziehung rechtlich eintragen zu lassen. Was passiert also mit dem Nachlass, wenn eine von beiden stirbt und kein Testament hinterlässt? Dieser Frage geht Ray Yeung in seinem berührenden und empathisch inszenierten Drama «All Shall Be Well» nach.
Ray Yeungs letzter Film, das Drama «Suk Suk» (2019) über die Liebesbeziehung zweier älteren Männer, gewann mehrere Preise; und auch sein neuester Film, «All Shall Be Well», ist bereits für mehrere Golden Horse Awards nominiert worden, sozusagen das taiwanesische Pendant zu den amerikanischen Oscars.
Angie (Patra Au) and Pat (Maggie Li Lin Lin) leben seit über 30 Jahren zusammen in einer Beziehung in ihrer Wohnung in Hongkong. Das Paar ist bei allen beliebt, und Pats Familie hat die beiden scheinbar voll integriert. Familienfeiern werden im grossen Appartement der beiden gefeiert; die Kinder sprechen von Tante Angie und Tante Pat.
Als Pat jedoch unerwartet stirbt, bekommt die Idylle Risse. Ohne Testament geht Pats Nachlass automatisch an ihren Bruder Shing Wu (Tai Bo), einschliesslich der grossen Stadtwohnung. Shing lebt zusammen mit seiner Frau (Hui So Ying) in wesentlichen einfacheren Verhältnissen als seine verstorbene Schwester; und ihre beiden erwachsenen Kinder können sich ebenfalls nur Kleinwohnungen leisten. Plötzlich sieht Angie sich mit der Erwartung konfrontiert, dass sie ihr Appartement zugunsten von Pats Familie verlassen soll.

Maggie Li Lin Lin und Patra Au in «All Shall Be Well» / © trigon-film
Ray Yeung fängt den Gegensatz von Angie und Pats grosser Bleibe im Gegensatz zu den simplen Wohnungen von Pats Familie mit simplen, aber aussagekräftigen Bildern ein und gibt damit der Motivation der Familie einiges an Raum. Zugleich zögert er aber auch nicht, Angie selbst das Verhalten der Familie präzis kritisieren zu lassen: «Wenn dein Vater gestorben wäre, würdest du von deiner Mutter erwarten, dass sie aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, damit ihr sie verkaufen und das Geld untereinander aufteilen könnt?» Yeung betrachtet keine seiner Figuren komplett empathielos, steht am Ende aber klar hinter Angie – ebenso wie Angies lesbische Freundinnengruppe, die sich von Anfang an klar positioniert.
«Angie sieht sich somit nicht nur mit dem schmerzhaften Verlust ihrer grossen Liebe konfrontiert, sondern zugleich damit, dass deren Familie – und Hongkong als Ganzes – sie am Ende doch nicht als ‹vollwertige› Lebenspartnerin von Pat anerkennt.»
Und die Wohnung ist längst nicht der einzige Konfliktpunkt: So wird Angie bei Pats Beerdigung etwa zur «besten Freundin» degradiert, ohne dass die Familie für sie einsteht. Angie sieht sich somit nicht nur mit dem schmerzhaften Verlust ihrer grossen Liebe konfrontiert, sondern zugleich damit, dass deren Familie – und Hongkong als Ganzes – sie am Ende doch nicht als «vollwertige» Lebenspartnerin von Pat anerkennt.

© trigon-film
«Überhaupt verzichtet Yeung darauf, für zusätzliches Drama noch weitere Konflikte in den Topf zu werfen. Stattdessen vertraut er ganz auf den starken Kern seiner berührenden Erzählung.»
Schauspielerin Patra Au hat mit Yeung bereits in «Suk Suk» zusammengearbeitet, und «All Shall Be Well» lässt keine Zweifel offen, warum er sie wieder ausgewählt hat. Sie bringt Angies Schmerz mit einer wundervoll subtilen Darstellung auf die Leinwand. Ebenso harmoniert sie hervorragend mit Pats Darstellerin Maggie Li Lin Lin – einer Schauspiel-Veteranin, die auch schon mit Yeungs grossem Vorbild Stanley Kwan («Women») kollaboriert hat – in jenen Szenen, in denen die liebevolle Beziehung der beiden ohne viele Worte, dafür mit ruhiger Intensität gezeigt wird. Überhaupt verzichtet Yeung darauf, für zusätzliches Drama noch weitere Konflikte in den Topf zu werfen. Stattdessen vertraut er ganz auf den starken Kern seiner berührenden Erzählung.
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Kinostart Deutschschweiz: 17.10.2024
Filmfakten: «All Shall Be Well» («從今以後», «Cóng jīn yǐhòu») / Regie: Ray Yeung / Mit: Patra Au, Maggie Li Lin Lin, Tai Bo, Leung Chung Hang, Fish Liew, Hui So Ying, Rachel Leung, Luna Shaw / Hongkong / 93 Minuten
Bild- und Trailerquelle: trigon-film
«All Shall Be Well» von Ray Yeung ist ein einfühlsamer Film, hinter dessen Ruhe und dessen zurückhaltender Protagonistin eine emotionale Wucht verbirgt, die tiefe Spuren hinterlässt.
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