Krebsdramen gibt es viele. Und meistens enden sie irgendwie tröstlich, weil Versöhnungen stattfinden, ein innerer Friede gefunden wird oder eine langersehnte Reise realisiert wird. In «Babyteeth», auch bekannt als «Milla Meets Moses», geht es zwar auch um Krebs, aber nicht nur. Es geht um eine Teenagerin, die ihre erste Liebe erlebt und das tut, was 15-Jährige eben so tun: gegen die spiessigen Eltern rebellieren und das Leben auskosten.
Was Milla (Eliza Scanlen) überhaupt nicht aushält, ist Selbstmitleid und hilflose Fürsorge. Denn die Krebserkrankung nervt und stiehlt ihr wertvolle Zeit. Und dann fällt sie am Bahnsteig buchstäblich dem zugekifften Moses (Toby Wallace) in die Arme. Zuerst versucht er, ziemlich ungeschickt zu helfen, nur um sie dann um Geld anzupumpen.
Sie gibt ihm, was sie hat, unter der Bedingung, dass er sie zum Abendessen nach Hause begleitet. Und ab hier weiss man nicht mehr, wer mehr mit Drogen dealt. Moses, weil er die Psychopharmaka von Millas Mutter klaut? Millas Mutter, weil sie zugedröhnter am Tisch sitzt als der strengriechende Streuner? Oder Millas Vater, ein Psychiater, der alles verschreibt, was die Seele entlastet, und sich den Rest Morphium selber spritzt?
Moses schlägt wie eine Bombe in diese gutsituierte Familie ein, gewinnt Millas Herz und erschreckt ihre Eltern Henry (Ben Mendelsohn) und Anna (Essie Davis). Nur, was sollen diese tun? Dieser dysfunktionale Typ bringt Milla zum Lachen, während der Vater stumm an der Krankheit der Tochter verzweifelt und die Mutter, eine Pianistin, nur noch über die Musik Zugang zu ihr hat? Sie gehen einen Deal mit ihm ein: Moses soll bleiben, dafür bekommt er rezeptfrei alles, was er braucht.
«Das Erstlingswerk der australischen Regisseurin Shannon Murphy zeigt die liebevollen und chaotischen Beziehungen miteinander auf, als sich ständig die Frage zu stellen, warum das Leben so ungerecht ist.»
Milla macht, was sie will, und Moses hat auch keine Lust zu funktionieren – und genau diese Haltung stellt den Krebs in den Hintergrund, denn es wird jetzt gelebt, und nicht irgendwann. Das Erstlingswerk der australischen Regisseurin Shannon Murphy zeigt vielmehr die liebevollen und chaotischen Beziehungen miteinander auf, als sich ständig die Frage zu stellen, warum das Leben so ungerecht ist. Die Dialoge sind witzig, ehrlich und zeigen, dass alle in einem Boot sitzen und im Umgang mit der Erkrankung auch scheitern dürfen.
Die Szenen wechseln schnell, als hätte man keine Zeit zu verlieren, und doch verwandelt sich nicht nur Milla allmählich in eine Erwachsene, sondern auch die Nachbarschaft geht ganz subtil aufeinander zu. Diese Begegnungen sind teilweise schräg, gehen aber zu Herzen. Millas Verwandlung von der Teenagerin zur jungen Frau entgeht den Eltern nicht, und es ist schwer zu übersehen, dass sie sich fragen, an wen sie ihre einzige Tochter verlieren werden: an den Krebs oder an Moses.
Diese ungewöhnliche tragisch-komische Coming-of-Age-Geschichte geht auch dank der hervorragenden Darstellenden zu Herzen. Milla, gespielt von Eliza Scanlen («Little Women»), kann kindlich-trotzig und sehr verletzlich sein und doch zur selben Zeit ihre Eltern zurechtweisen. Toby Wallace als Moses spielt den scheinbar nichtsnutzigen Versager, der eigentlich der ganzen Familie den Spiegel vorhält, so grandios, dass nicht mal die Phrase «Es ist kompliziert» platt klingt, als ihn Milla fragt, ob er sie mag. Wallace wurde sogar an den Filmfestspielen in Venedig 2019 mit Preis für den besten Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet. Ein Preis, den auch Scanlen mehr als verdient hätte.
«Diese ungewöhnliche tragisch-komische Coming-of-Age-Geschichte geht auch dank der hervorragenden Darstellenden zu Herzen.»
«Babyteeth» (oder eben «Milla Meets Moses») basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück der australischen Autorin Rita Kalnejais und feierte seine Premiere letztes Jahr in Venedig. Shannons hervorragendes Regiedebüt setzt neue Akzente auf den Ebenen Erzählung, Ton und Ästhetik und lässt uns in eine herzerwärmende Tragikomödie voller Liebe und Chaos eintauchen.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.10.2020
Filmfakten: «Babyteeth» (Schweizer Verleihtitel: «Milla Meets Moses») /Regie: Shannon Murphy / Mit: Eliza Scanlen, Toby Wallace, Essie Davis, Ben Mendelsohn / Australien / 118 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Pathé Films
Die charakterstarke Coming-of-Age-Geschichte, gespickt mit bissigen Dialogen und einfühlsamen Momenten, stellt das Leben in den Mittelpunkt, und nicht die Diagnose.
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